Günther Mohr
Mai 2015
1. Auf dem Weg zur sozialen Weltgesellschaft
Die Utopie einer friedlichen und einer überall von mindestens bescheidenem Wohlstand bestimmten Gesellschaft scheint greifbarer als je zuvor in der Geschichte. Das Weltvermögen von geschätzt 280 Billionen Euro könnte bei 7 Milliarden Menschen auf der Welt für jeden etwa 40.000 Euro bedeuten. Zugegeben, das Geld ist derzeit etwas anders verteilt. Wie können also Wirtschaft und Wirtschaftspolitik gestaltet werden, damit sie das Leben insgesamt unterstützen? Nach allem, was wir heute wissen, erfordern gerechte Lebensbedingungen auch eine fundamentale Transformation der Lebensweise in den entwickelten Ländern. Wachstum wird anders zu definieren sein als bisher.
Das merkwürdige Versprechen
Der maßgebliche Faktor für die Verteilung der Güter ist zunächst nicht die Politik, sondern die Wirtschaft. Dort entstehen Werte, die unser Leben bestimmen. Dabei ist das Wirtschaftsgeschehen auf allen Ebenen ganz wesentlich durch Psychologie bestimmt. Selten wurde das deutlicher als am 5. Oktober 2008, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) im Fernsehen mit einem Versprechen auftraten: »Die Spareinlagen sind sicher.« Ein Versprechen, das sie eigentlich niemals hätten einhalten können. Wenn nämlich am nächsten Tag Hunderttausende Deutsche vor den Banken Schlange gestanden und ihre Sparguthaben zurückverlangt hätten, wäre die deutsche Wirtschaft zusammengebrochen. Merkel und Steinbrück beruhigten mit diesem psychologischen Trick die Öffentlichkeit.
Ängste, Drohungen, Hoffnungen und Erwartungen beeinflussen die wirtschaftlichen Einschätzungen und Aktivitäten der Menschen. Diese Stimmungen werden von den Medien verstärkt, teilweise sogar geprägt. Wie die Psychologie im Einzelnen und im System der Wirtschaft relevant ist, wird im Buch betrachtet. Daraus werden zu wichtigen Fragen alternative Perspektiven entwickelt.
Systemische Zusammenhänge bestimmen das Funktionieren von Staat und Wirtschaft als Ganzes, aber auch die Erfolgsbedingungen des Einzelnen. Es ist eben nicht mehr egal, ob in China der viel beschworene Sack Reis umfällt oder nicht. Zudem haben sich seit 1990, dem Auftreten des Internet und der Auflösung des Ostblocks, die Informationen für nahezu alle Menschen auf der Welt vervielfacht. Das tägliche Erleben emotional belastender Nachrichten von rund um den Globus lässt die Welt kleiner, zuweilen chaotischer erscheinen. Aber auch die Kontrolle der Menschen und die Transparenz ihrer Aktivitäten in Arbeit und Konsum werden in einem Ausmaß möglich wie nie zuvor. Es existieren in der Welt kaum noch Nischen für den Einzelnen. Gerade Menschen in den reichen westlichen Ländern reagieren immer häufiger mit psychischen Mustern wie Burn-out auf die Situation. In der Krise von Finanzindustrie und Staatsfinanzen sind psychologische Verknüpfungen so bestimmend wie tatsächliche faktische Zusammenhänge. Sie resultieren aus vorhandenen oder ausgeblendeten Informationen, aus dem Erleben von Ereignissen und aus dem sich daraus bildenden Vertrauen.
In dieser Situation braucht es Perspektiven auf das Wirtschaftsgeschehen, die über das Bisherige hinausgehen. Die systemische Sichtweise ist eine solche Überblicksperspektive für die Wirtschaft. Ich lege deshalb in diesem Buch das systemische Rahmenmodell zugrunde, das ich für Organisationen entwickelt habe und in dem Buch «Systemische Organisationsanalyse« beschrieben habe (Mohr 2006). In vielen Diskussionen stellte sich heraus, dass es auch für die Betrachtung der Wirtschaft als Ganzes und die Offenlegung der hier wirksamen psychologischen Aspekte tauglich ist. In dem Buch wird die systemische Perspektive anhand von zehn dynamischen Mustern zur Wirtschaftsanalyse genutzt. Vielleicht gibt es einige Anregungen, die Wirtschaft als Systemwelt ein Stück besser zu begreifen und entsprechend zu handeln.
Ein Kreislauf und große Ziele
Gerade in der Wirtschaft sind systemische Prozesse wesentlich durch Kreisläufe geprägt. Peter Sloterdijk (2009) erzählt eine schöne Geschichte, die zunächst paradox wirkt, aber das Prinzip verdeutlicht.
Ein deutscher Tourist kommt in ein irisches Hotel und will sich einige Zimmer ansehen. Er legt dazu einen 100-Euro-Schein auf die Theke. Während er die Zimmer in Ruhe anschaut, läuft der Wirt mit dem Geld zum Metzger und bezahlt seine Schulden für Fleisch, der Metzger nimmt die 100 Euro läuft zum Bauern und bezahlt für dessen Lieferung. Der wiederum läuft zu einem Schreiner und bezahlt seine Schulden für die neuen Fenster. Der Schreiner läuft zu einer Dame, die im Ort spezielle Dienstleistungen für Männer anbietet und bezahlt seine offenen Rechnungen. Diese wiederum geht zum Hotel und gibt dem Wirt den 100-Euro-Schein für noch nicht bezahlte Zimmernutzung. Der Wirt legt den 100-Euro-Schein wieder auf die Theke. Dem deutschen Touristen haben die Zimmer nicht zugesagt, er nimmt den 100-Euro-Schein, geht von dannen und hinterlässt ein glückliches Dorf, in dem alle Schulden bezahlt sind.
So oder so ähnlich funktioniert das auch im wahren Leben. Wird der Kreislauf von Waren und Geld unterbrochen oder nur verlangsamt, wie es zum Beispiel im Jahr 2008 bei der Finanzkrise geschehen ist, werden Menschen vorsichtiger, investieren und konsumieren weniger und der gesamte Wirtschaftsprozess kommt ins Wanken.
Schaut man sich die verschiedenen Ansätze über den Sinn und die Ziele der Wirtschaft an, so finden sich zwei klassische Antworten: Erstens will Wirtschaft aus den vorhandenen Ressourcen mit dem geringsten Aufwand den größten Nutzen ziehen. Diese Zielsetzung wird auch als Allokation bezeichnet. Zweitens gehört nach heutiger Übereinkunft ein ausreichendes Niveau von Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten für möglichst viele Menschen zur Wirtschaft.
Manchmal wird auch ein drittes Ziel, das der gerechten Verteilung der erarbeiteten Ressourcen, ergänzt. Wobei die Ökonomen hier sehr unterschiedlicher Meinung sind, ob die Wirtschaft wirklich eine gerechte Verteilung herstellen kann und soll. In der Perspektive der Wirtschaftswunderjahre war dies noch selbstverständlich. Das Thema Verteilungsgerechtigkeit ist im Zuge der neoliberalen Dominanz der 80er- und 90er-Jahre zeitweise in den Hintergrund getreten, um dann nach der Wirtschaftskrise ab 2008 wieder zu Aufmerksamkeit zu kommen. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat kürzlich rege Diskussionen durch seine These ausgelöst, dass es eine radikale Umverteilung zugunsten der Kapitaleigner gebe (Piketty 2014). Seine schlichte Formel: Die Kapitalrendite, also das Einkommen aus Kapital, ist tendenziell höher als die Wachstumsrate, sprich, die Reichen bekommen vom Kuchen ein relativ größeres Stück ab.
Heute sollte man bei der Betrachtung der Wirtschaft ergänzend den Aspekt der Nachhaltigkeit, also die Berücksichtigung der langfristigen Folgen des Handelns und des Ressourcenverbrauches, erwähnen. Es ist allerdings streng genommen eine Unterfunktion der Allokation, der sinnvollen und effizienten Kombination der Ressourcen. Man muss nur die verschiedenen Naturressourcen entsprechend wertschätzen und eventuell auch finanziell bewerten.
Dabei wird die wichtigste Ressource heute oft vernachlässigt, nämlich die der menschlichen Lebenszeit und der psychohygienischen Gesundheit. Menschen werden wieder, wie es zu Beginn der Industrialisierung und dann im tayloristischen Menschenbild mit der »Klein-Klein-Optimierung« menschlicher Handgriffe gipfelnd schon einmal der Fall war, als reine Produktionsfaktoren gesehen. Anders sind die heutigen Phänomene der Arbeitsverdichtung, der Arbeitsintensität und der langen Arbeitszeiten mit entsprechenden Folgen wie Burn-out nicht zu erklären. Im 19. Jahrhundert führte der gigantische technische Fortschritt zu einer materiellen Verelendung der Menschen. Heute scheint der technische