– und mit der lebendigen Leidenschaft, die uns zum Risiko befähigt.
2. Neugier und Wissensdurst pflegen
Jedes Kind betritt diese Welt voller Neugier: Kaum ist es geboren, versucht es schon seinen eigenen Körper und dann seine Umgebung mit seinen Händchen zu erfassen. Nach und nach erwachen seine Sinne, deren jeder ein Kontaktorgan (= eine zentrale »Ich-Funktion des Selbst«) ist, mit dessen Hilfe das Kind eine komplexe, multidimensionale Welt zugleich entdeckt und erfindet. Wie Perls und Goodman sprechen wir hier nicht nur von »entdecken« , sondern auch von »erfinden«, weil unser die Sinnesdaten verarbeitendes Gehirn die Wirklichkeit in einer ganz bestimmten begrenzten Weise zeigt bzw. aus diesen Daten eine Realität konstruiert, die dann bei kommunikativer Bestätigung durch andere und praktisch-funktionaler Bewährung zu dem wird, was wir für die Wirklichkeit halten.
Bei allen höheren Säugetieren schon gibt es ein Neugier-Verhalten, das eng mit der Spielphase bei den Heranwachsenden verbunden ist. Der evolutionäre Sinn dieses Verhaltens ist natürlich, dass die Tiere ihre Sinne erproben und dabei ihre Umwelt kennen lernen, z. B. wo sich ihre Nahrungsquellen befinden und wo auch die Gefahren lauern. Die Säugetiere haben sich so entwickelt, dass es zu ihrer Natur gehört, die Welt aktiv zu erkunden, sich also neugierig auch dem Unbekannten zuzuwenden, insbesondere in der Spielphase der Aufwachsenden, wenn es um die Ausbildung der senso-motorischen Funktionen geht.
Erst recht aber beim Menschen ist dieses Erkunden und Erforschen nicht allein auf die Kindheits- und Jugendphase ihrer Entwicklung beschränkt, sondern, wenn er nicht daran gehindert wird, ein lebenslanges Grundmuster seines In-der-Welt-Seins. Genauso wie bei den Tieren ist dabei wichtig, dass die Neugier angeregt wird durch reiche Stimuli in der Umwelt. Bei einer reizlosen Umwelt verkümmert die Neugier. Es ist auch hier wieder, wie die verhaltensbiologische und die psychologische Forschung bestätigt, die Wechselwirkung von Umweltreiz und Interesse, die an ihrem Berührungspunkt, gestalttherapeutisch gesagt an der Kontaktgrenze, zu Erfahrungen führt, die die Intelligenz steigern und das Wissen vermehren.
■ Die Gestalttherapie sieht neben den biologischen Grundbedürfnissen zwei andere Grundbedürfnisse, die einigermaßen erfüllt sein müssen, damit Menschen überleben und wachsen können:
1. das Bedürfnis nach Sicherheit, das dem Überleben gilt
2. das Bedürfnis nach dem Neuen, das allein in der Umwelt zu finden ist
Der bekannte amerikanische Gestalttherapeut Michael Vincent Miller geht so weit zu sagen, dass Neugier in der Theorie der Gestalttherapie gleichbedeutend sei mit dem, was für die Theorie der Psychoanalyse die Libido ist, also die Grundkraft (»the elemental shaping force«), die das Wachstum und die Entwicklung vorantreiben (M. V. Miller, 1987). In seinen Worten: Der Begriff der »Neugier passt bestens zur phänomenologischen Basis der Gestalttherapie, denn es ist ein ›intentionaler‹ Begriff; d. h. er verbindet Gewahrsein mit Aggression in der Bedeutung, in der Gestalttherapie diese Begriffe benutzt, in dem die subjektive Erfahrung eines Selbst mit anklingt, das seine Sinngebungen und Absichten an die Welt hinaus richtet.« (22, meine Übersetzung, HPD).
Sicherheitsstreben und Neugier müssen sich also die Waage halten (T. Kashdan, Curious?, 2009). Fast immer soll erst das körperliche Überleben gewährleistet sein, bevor sich der forschende Geist aufmacht, die Welt zu erkunden. Gesellschaftlich aber ist nun, wie wir gesehen haben, in der westlichen Welt die Waagschale tief auf die Seite der Sicherheit gesunken. Während für die meisten in dieser Gesellschaft die Befriedigung der Grundbedürfnisse gesichert ist – kaum jemand hungert oder friert, nur wenige sterben noch an Seuchen und wir leben länger und gesünder denn je – versichert man sich gegen immer mehr Risiken des Lebens und sorgt sich ständig um die eigene Sicherheit in der Öffentlichkeit. Dabei ist, wie wir bereits unter Berufung auf Steven Pinker festgestellt haben, die Chance gewaltlos zu leben und gewaltlos zu sterben heute so groß wie nie zuvor in der Geschichte.
Das deutsche Wort Neugier enthält schon seine eigene Negation. Bei der Gier nach etwas Neuem würde man heute eher an problematische Formen des Konsumverhaltens denken als an das, was das lateinische Wort curiositas, aus dem sich die entsprechenden Worte in der englischen und in den romanischen Sprachen ableiten, eigentlich meinte, nämlich unseren Wissensdurst, diese vielleicht tiefste und menschlichste unserer Leidenschaften. Für die antike Philosophie von Aristoteles bis zu Seneca stand fest, dass alle Menschen von Natur aus neugierig sind. Als aber das Christentum seinen Siegeszug antrat, wurde die Neugier zu einer überflüssigen Ablenkung von der Offenbarung, die keiner Ergänzung mehr bedurfte.
■ Nachdem die Kirchenväter Tertullian und Augustin die Neugier als eine Sünde verdammt hatten, blieb sie für über tausend Jahre verdächtig, allenfalls zur Ketzerei zu führen. Und sie wurde zu einer weiblichen Eigenschaft: War es nicht Eva gewesen, die Adam verführt hatte, vom Baum der Erkenntnis zu essen? Und konnte man nicht zu allen Zeiten beobachten, dass die Frauen stets von Neugier getrieben sind?
Erst die neuzeitliche Transformation der Neugier in den Wissensdurst des Forschers rehabilitierte sie als eine Tugend, die damit freilich auch den Frauen aus der Hand genommen wurde. Es war »der Prozess der theoretischen Neugierde«, wie der Philosoph Hans Blumenberg es in seinem berühmten Buch genannt hat (H. Blumenberg, 1977), der das (zumindest der wissenschaftlichen Erkenntnis dienende) Fragen wieder gesellschaftlich legitimiert und damit einen enormen Entwicklungsschub ausgelöst hat, der bis heute anhält und der erst zur Mechanisierung der Welt (S. Gideon, 1982) und zur heutigen Digitalisierung unseres Alltagslebens geführt hat.
Oberflächlich gesehen scheint die Zeit, in der die Wissbegierde der Kinder durch ein rasches »Sei nicht so neugierig!« schon frühzeitig gedrosselt wurde, endgültig vorbei zu sein. Die elende Geschichte der Verdammung der Neugier als Sünde, die von Augustins Warnungen vor der Curiositas bis zur Verfolgung der Naturforscher durch die Inquisition in der frühen Neuzeit reichte, scheint beendet. Bei genauerem Hinsehen ist der Wissensdurst, dieser wunderbare Urtrieb des Menschen, heute aber erneut gefährdet, und zwar durch seinen eigenen Erfolg. Er trifft nämlich nun auf eine doppelte Hemmschwelle. Einerseits wird unser Wissensdurst gedämpft durch unsere eigenen Risiko-Ängste, die ständig von Katastrophenmeldungen und Katastrophenfantasien aller Art genährt werden, denen wir doch mit schaudernder Neugier unsere Aufmerksamkeit schenken. Andererseits wird er leicht frustriert durch die Überfülle der im Internet leicht zugänglichen Daten – Informationen also, die erst noch zu Wissensbeständen verbunden werden müssen.
■ Oft wird dieser mühselige Prozess heute durch eine Transformation komplexer Wissensbestände in Bilder durch die Medien umgangen, die dadurch eine Wirkmächtigkeit gewinnen, die weit über den Erkenntniswert von Illustrationen hinausgeht. Inzwischen scheinen die Bilder zuweilen sogar die wissenschaftliche Erkenntnis vor sich her zu treiben. Zum Beispiel sorgen die bildgebenden Verfahren dafür, dass die medizinische Diagnostik inzwischen die therapeutischen Möglichkeiten der ärztlichen Kunst weit hinter sich gelassen hat; in der Gehirnforschung scheinen sie sogar zuweilen die Erkenntnis selbst zu ersetzen – so groß ist ihre Faszination. Der Grund für den Erfolg der Bilder ist ihr Versprechen, die übergroße Komplexität der Wirklichkeit so zu reduzieren, dass sie leichter zu erfassen und handlungs-motivierender ist – allerdings auf Kosten der analytischen Erkenntnis.
Gegen die Gefahr der Verdummung durch die Bilder hilft, ihnen mit eigener Gestaltungskraft zu begegnen. Die Gestalttherapie hat von vornherein (durch den Einfluss von Laura Perls) immer auch auf die Kraft der schöpferischen Arbeit mit künstlerischen Medien vertraut. Das sollte aber nun nicht mehr als Gegensatz zur technischen Welt begriffen werden, sondern als ein produktives Miteinander. Vielleicht ist das malerische Werk von Gerhart Richter deshalb weltweit so außergewöhnlich erfolgreich, weil ihm das mit der Kombination von Fotografie und Malerei so wunderbar gelungen ist. Und weil er im Gegensatz zu der fast gesamten sonstigen Gegenwartskunst nie aufgegeben hat, nach der Schönheit zu suchen.
Man muss sich vergegenwärtigen, dass der Erkenntniszuwachs, den wir der wissenschaftlichen Forschung verdanken, zwar nicht im Detail, aber doch aus einiger Distanz gesehen, der Bewegung konzentrisch sich ausdehnender Kreise folgt: Forschungsergebnisse sind wie Steine, die in einen stillen