■ Dieses Abenteuer ist offenbar dafür verantwortlich, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die geradezu besessen von Sicherheitsbedürfnissen und Sicherheitserwartungen ist. Nie zuvor in der Geschichte haben sich Menschen gegen so viele Risiken des Lebens versichern lassen und gleichzeitig ist nie zuvor ein derart großer Aufwand für Sicherheitsvorkehrungen getrieben worden. Die Angst vor Terrorismus hat zur Entwicklung digitaler Überwachungssysteme geführt, die auf die Dauer die Privatsphäre als solche zu zerstören drohen – schließlich stehen wir erst am Beginn der digitalen Revolution.
Dabei ist das Leben tatsächlich unvergleichlich viel sicherer geworden als es in vormodernen Zeiten war. Wie Steven Pinker in seiner großen Untersuchung zur Geschichte der Gewalt gezeigt hat (Pinker, 2011), ist die Chance, durch menschliche Gewalt oder durch einen Unfall zu Tode zu kommen, trotz der großen Kriege und Völkermorde des 20. Jahrhundert sehr viel geringer geworden, als sie noch im 19. Jahrhundert war. Trotz internationalem Terror, trotz schreckenerregender Unfälle bei der Großtechnik vom Untergang der Titanic bis zu Tschernobyl und Fukushima: Wir fahren täglich mit dem Auto und wir reisen in entfernte Gegenden (sofern uns nicht das Außenministerium davon abrät) weitgehend ohne Furcht vor Unfällen, Überfällen und Mordattacken. Die Selbstverständlichkeit unserer Mobilität ist das beste Indiz dafür, wie sicher wir uns tatsächlich fühlen.
Allerdings lässt sich dieses Sicherheitsgefühl nur durch die neurotische Verdrängung der großen Umweltgefahren aufrechterhalten. Nur so lässt sich der Widerspruch zwischen Risikobereitschaft beim Betrieb von Atomkraftwerken und vorläufigen »Endlagern« des anfallenden Atommülls und den zum Teil schon wahnhaften Sicherheitsbedürfnissen, z. B. beim Autobau oder im Haushalt, erklären. Diese haben auch etwas damit zu tun, dass uns die globalisierten Medien ständig die meist eher punktuelle Gewalt aus aller Welt vor Augen führen und wir uns in zahllosen Filmen Gewaltszenen anschauen, die uns teils mit schauderndem Warnen, teils mit voyeuristischem Blick im Detail vorgeführt werden. Auf jeden Fall erleben wir heute ein paradoxes Nebeneinander von Risikoverhalten und Risikovermeidung. Während im öffentlichen Bereich die staatlichen und wirtschaftlichen Systeme bei der Förderung und Benutzung von Großtechnologien gigantische Risiken auf sich nehmen, um die weltweiten Handelsketten in Fluss zu halten und die Profite zu sichern, wird der Bürger von Seiten eines paternalistischen Staates mit oft absurden Sicherheitsvorschriften gegängelt. Dabei sind dessen eigene Sicherheitsbedürfnisse schon reichlich genug ausgeprägt, wo nicht Gruppen von Jugendlichen und einzelne Extremsportler vorübergehend aus diesem subtilen Zwangssystem aussteigen.
Paradoxerweise ist es gerade der private und staatliche Sicherheitswahn, der der Verdrängung der wahren Risiken Vorschub leistet. Das wird durch zwei Faktoren begünstigt: die abstrakte Größe der Gefahren und zum Teil auch ihre abstrakte Qualität wie bei der sinnlich nicht erfahrbaren nuklearen Strahlung einerseits, und dem Gefühl der Ohnmacht gegenüber den großen und als abstrakt erlebten Systemen der Politik und der Wirtschaft andererseits. Was als unmittelbar erlebbar erfahren wird, ist dagegen weniger Verdrängungen ausgesetzt: Übereinstimmend zeigen alle entsprechenden Untersuchungen, dass die Hauptsorge der meisten Menschen ihrer Gesundheit gilt – obwohl wir so gesund sind und so lange leben wie nie zuvor, weshalb sie als Glücksfaktor fast nur von alten Menschen wahrgenommen wird.
In der Tat ist also gesellschaftlich gesehen das Leben nicht nur abenteuerlich im Sinne von reich an Überraschungen, sondern auch im Sinne von ungewiss und gefährlich – auch wenn die wirklichen Gefahren vielfach verdrängt werden. Im Bewusstsein des Einzelnen aber stehen die Gefährdungen des »normalen« Lebens im Vordergrund: Bleibt mir meine Gesundheit erhalten? Werde ich diese Prüfung bestehen? Schaffen meine Kinder den Hauptschulabschluss, das Gymnasium, das Abitur, die Gesellenprüfung, die Fahrprüfung usw.? Werde ich meine Arbeit verlieren? Habe ich noch Aufstiegschancen? Bleibt mir meine Frau / mein Mann treu? Übernehme ich mich bei diesem Kredit für den Hausbau? Komme ich ohne Stau durch? Es sind die vielen privaten alltäglichen Ängste, an denen sich die starken Sicherheitsbedürfnisse entzünden, und es ist die außerordentliche Komplexität und Unübersichtlichkeit des modernen Lebens, die sie schüren.
■ Das ist dann der Punkt, an dem der Satz »Sich in das Abenteuer des Lebens stürzen« einen normativen Gehalt bekommt. Gestalttherapie lehrt, dass es sich lohnt, dass es uns inneren Reichtum und innere Reife schenkt, wenn wir uns auf das Leben voll einlassen, nämlich
– mit Leidenschaft,
– ohne Rücksicht auf verinnerlichte Normen und Lebensskripte,
– unseren Gefühlen ebenso folgend wie unserem Verstand,
– immer auf das Leben selbst setzend,
– nicht auf bürokratische oder ökonomische Sicherheit bauend,
– sondern stattdessen den eigenen schöpferischen Kräften vertrauend.
Von solcher Art ist das Selbstvertrauen, das in der Gestalttherapie aufgebaut und geübt wird. Jede »Gestaltarbeit«, d. h. jede therapeutische Begegnung zwischen Gestalttherapeut und Klient, ist ein Abenteuer in dem Sinn, dass keiner von beiden weiß, wohin diese Begegnung, dieser Tanz, sie führen wird. Es ist immer ein Sich-Einlassen auf das Unbekannte. Oft führt dieses Abenteuer zunächst in eine Sackgasse, in der der Patient das Gefühl hat, dass es nicht weitergeht. Seine Energie implodiert und steht als Kraft für den Kontaktprozess nicht mehr zur Verfügung, weil er sie »retroflektiert«, d. h. auf sich selbst zurückwendet, so als würde er mit sich selbst Fingerhakeln spielen. Das Haupthindernis, aus der Sackgasse herauszukommen, sind seine Katastrophenängste. Klinische Beobachtung zeigt, dass diese Katastrophenängste umso stärker und unrealistischer werden, je stärker ein Mensch »retroflektiert«. Gestalttherapie setzt hier auf die verändernde Kraft des Gewahrseins. In den Worten von Fritz Perls: »Ich bin überzeugt, dass wir die Sackgasse überwinden können, vorausgesetzt wir widmen der Art und Weise, wie wir fest hängen, unsere volle Aufmerksamkeit.« (PHG, 174). Dann entdeckt und erfindet der Patient eine neue Lösung, einen Weg aus der Sackgasse, und entdeckt dabei Kräfte in sich selbst, die sein Selbstvertrauen, seinen Lebensmut, stärken.
Angst ist ein sehr unangenehmes Gefühl, auch wenn es sich nicht um die Furcht vor einer konkreten gegenwärtigen Bedrohung handelt, sondern um das Gefühl einer unbestimmten Angst vor nur vage vorgestellten, unklaren, eventuell nur eingebildeten Gefahren. Und das ist eben genau dann der Fall, wenn wir stark »retroflektieren«, denn dann fehlt uns die lebendige Erfahrung mit dem Teil unserer Umwelt, den wir vermeiden. Wird der Chef, mit dem ich noch nie gesprochen habe, mir wirklich demnächst kündigen, wenn ich ihn um ein paar Tage zusätzlichen Urlaub bitte, um mich um meine kranke Mutter zu kümmern? Konzentrieren wir uns auf die Lähmung des Handlungsimpulses, dann wird das Erfahrungsfeld, (die »Kontaktgrenze«) zwischen mir und dem jeweils relevanten Umfeld sofort differenzierter und lässt nun Platz für unsere kontra-phobischen Kräfte. Die (schmerzvolle) Konzentration darauf, wie wir uns blockieren, mobilisiert die Energie des unterdrückten Lebensmuts und macht uns frei für schöpferische Lösungen (für die »kreative Anpassung«). Dabei helfen uns in der Gestalttherapie die sogenannten Gestalt-Experimente; und im Leben ein risikofreudiges, aber nicht leichtsinniges, in einer Haltung von Versuch und Irrtum lustvolles Ausprobieren – kurz: ein abenteuerfreudiges und zugleich leidenschaftliches Herangehen an die aktuell vorliegenden Aufgaben.
Gehen wir also in das Abenteuer des Lebens hinein
– mit dem Mut des Vertrauens auf die eigenen Kräfte,
– mit Vorsicht im Hinblick auf unsere Schwächen,
– mit Umsicht im Hinblick auf die Ressourcen in unserer Umwelt,
–