Jung verlegt so das »eigentliche« menschliche Leben in die autonome Totalität der Seele, die zur einzig wahren, erstrebenswerten Wirklichkeit erhoben wird, und degradiert demgegenüber die soziale Welt zum rein zweckhaften Anpassungsbereich des Ich: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist«, »das Himmelreich aber ist inwendig in euch«. Hier das Leben der autarken, sich selbst betonenden Individualität, dort das periphere Ich, das sich anpasst – bis hin zu jener Maske der Anpassung, die als »Persona« bezeichnet wird. Hier Individuum, dort Kollektivum. Über diesen grundsätzlichen Dualismus kommt Jung nicht hinaus. Wir werden im zweiten Teil unserer Betrachtungen auf die unlösbaren Widersprüche, die sich daraus ergeben, näher eingehen.
Dass diese Geisteshaltung Jungs gnostischer Prägung ist, dass er jenes neutestamentliche Wort vom »Himmelreich«, 4 wie manches andere, gnostisch wendet und umdeutet, sei nur beiläufig erwähnt. Er gibt seine Verwandtschaft mit der Gnosis ja selber zu und hat sie gerade in jüngster Zeit durch seine Deutung alchemistischen Materials erhärtet. Mit diesem eigenartigen Dualismus, der durch Entwertung der konkreten Welt und der menschlichen Weltbegegnung, das heißt durch die Verlagerung der sozialen »Anpassung« an die Peripherie, das seelische Innenleben des Menschen freimachen und in seiner Eigensphäre kultivieren will, glaubt Jung seinerseits die therapeutische Forderung des störungsfreien Verhältnisses zur Welt vorbildlich realisieren zu können. In dieser dualistisch-gnostischen Weltauffassung sehen wir die besondere Voraussetzung, auf der Jung sein System errichtet hat.
Diese Weltauffassung entspricht seinem zweifellos introvertierten Charakter, und beides zusammen ist – so glauben wir deutlich zu erkennen – das Produkt einer geheimen existentiellen Entscheidung. Jung hat sich, wie wir später ausführen werden, in radikalem Entschluss der partnerischen Begegnung mit der Welt entzogen. Er hat seinen personalen Schwerpunkt von dieser äußern Begegnungsfront willentlich zurückgeholt und hat sich zum Schöpfer einer Innenwelt der Seele werden lassen. Nun verbirgt sich sein Selbst in einer imaginären Eigenwelt und lässt sich nur in diesem innerseelischen Wirkbereich finden.
Finden von wem? Von eben dem »Ich«, das sonst als Randfunktion der Psyche vornehmlich der Außenwelt zugekehrt ist, nun aber auch sich als geeignet erweist, in der Haltung des Psychologen eine radikale Schwenkung nach innen zu vollziehen. Diesem forschenden Ich wird jetzt das im unbewusstseelischen Geschehen verfangene Selbst zum Objekt der Suche – sowohl hinsichtlich des wissenschaftlichen Verständnisses als auch des therapeutischen Realisierungsprozesses. Auf dieser geheimen Entscheidung gründet unseres Erachtens Jungs dualistisch-gnostische Weltauffassung, seine introspektive Forschung und seine introversiv ausgerichtete Psychotherapie.
Zur Phänomenologie und Problematik der funktionellen Subjektspaltung
Wir müssen zum besseren Verständnis dieses introversiven Rückzugs aus der Weltbegegnung etwas weiter ausholen. Ein solcher Akt entspringt, wie wir sagten, zuletzt der existenziellen Entscheidung des Menschen und somit der unbedingten Freiheit seines Selbst.
Aus dieser Freiheit des Selbst heraus hat der Mensch in sich die Macht des eigenen Willens. Sein Selbst »passt sich nicht an«, denn es ist nicht welthaft. Es »läuft auch nicht mit«, denn es ist nicht weltgebunden. Das Selbst des Menschen west souverän in sich selbst als dieses je und je Einzige und steht in seiner personell bestimmten Würde zunächst nur Gott, seinem Schöpfer, gegenüber. Es ist auf Anrede von Ihm her und auf Gehorsam zu Ihm hin angelegt und ist selbst darin noch frei, sich dieser Anrede zu verschließen und seinen Gehorsam zu verweigern – was es, so oder so, in selbstüberheblichem und sogar selbstmörderischem Trotz zu tun sich willens zeigen kann.
Wie aber verhält es sich mit dem Ich des Menschen, wenn es, wie in Jungs Komplexer Psychologie, als Bewusstseinsfunktion vom Selbst abgehoben und ihm gegenübergestellt wird?
Während sich das Selbst in seiner Freiheit von Gott und der Welt abzuwenden und sich autark zu behaupten vermag, kommt dem Ich des Menschen keine solche Eigenmächtigkeit zu. Das Ich ist nicht personale Instanz im Menschen, sondern dessen welthaftes und weltzugewandtes Organ. Es kann weltläufig werden, lässt sich von den Mächten der Welt mitnehmen und wird ihnen hörig. Festen Grund und Stand hat es nur in dem Selbst, zu dem es ursprunghaft gehört. Flieht aber dieses Selbst die Welt, verzirkelt es sich in seine geschlossene Eigensphäre, dann hängt das Ich als Organ der Begegnungsvermittlung gleichsam in der Luft und pendelt hin und her, zwischen Innen und Außen.
Dies gerade ist die charakteristische Situation der Neurose: das Ich, bestimmt vor allem zum Träger der Bewusstseinsbezüge, meidet als Satellit des begegnungsflüchtigen Selbst die Welt und wird demzufolge als Funktion, die es ist, erst recht die Beute der Anpassung fordernden Mächte. In seiner widersprüchlichen Abgelöstheit vom Selbst verliert es den legitimen Rückhalt, emanzipiert sich als Bewusstseinsorgan und entartet so mehr und mehr zur willkürlichen Weltfunktion. Ohne den personalen Rückhalt eines der echten Begegnung erschlossenen Selbstes verfällt es in seiner Weltbeziehung unweigerlich der Man-Welt (Heidegger) oder Fremdwelt und fügt sich schließlich deren »allgemeingültigen« Gesetzen und Ordnungen kritiklos ein: wenn es Glück hat, als »braves Glied« einer relativ gesunden Gemeinschaft. In dieser sozialen Einordnung macht es dann seine Karriere, im Guten wie im Schlechten. So wird jene maskenhafte Ichhaltung übermächtig, die Jung Persona genannt hat. Wir wollen hierbei einen Augenblick verweilen.
Jungs »Persona« stellt sich im Gesamtaspekt der menschlichen Lebensgestaltung gewiss als recht fragwürdige Einordnung in die Sozietät dar. Diese weltbezogene Gestaltung der Persona konstituiert sich aus den »mehrwertigen« psychischen Funktionen des Bewusstseins, denen die nicht differenzierten, »minderwertigen« Funktionen, die weitgehend unbewusst sind, polar entsprechen. In gesunden Fällen bleiben diese »minderwertigen Funktionen« der bewussten Verarbeitung doch noch relativ zugänglich. In der Neurose aber werden sie – in dem Maße, als »alle verfügbare Libido den begünstigten Funktionen zugeführt ist« – regressiv und archaisch. Durch die psychologische Analyse der im Unbewussten aktivierten Phantasien »soll die minderwertige Funktion wieder zum Bewusstsein und damit zur ganzheitlichen Integration gebracht werden«.
Hierzu ist zu bemerken, dass die praktische therapeutische Erfahrung diese psychologisch in die Wege geleitete Reintegration der minderwertigen Funktion insofern und so weit bestätigt, als dadurch eine bewusste Beziehung des Patienten zur Innenwelt seiner Seele hergestellt und so auch eine Art von Einbefassung ihrer unbewusst proponierten Möglichkeiten und Aufgaben angeregt wird. Ob aber auf diesem Wege einer funktionellen Differenzierung der Patient in seinem Selbst erreicht und in die Realbeziehung zur Welt zurückgeführt werden kann, bleibt in Frage gestellt. Denn vom Bewusstwerden und derart eingeleitetem Differenzieren der minderwertigen Funktion zur Realisierung wirklicher Weltbegegnungen ist es ein existenzieller Sprung – ohne diesen bleibt der »funktional« geeinte Mensch in der Introversion stecken.
Der psychologische Zusammenhang muss unseres Erachtens noch tiefer erfasst werden. Nach unserem Dafürhalten ist die »minderwertige Funktion« gar nicht an ein anonymes Unbewusstes gebunden, dem sie durch psychologische Bewusstmachung einfach entlockt werden könnte – woraus sich dann die konkrete Weltbegegnung quasi von selbst ergäbe –, sondern diese minderwertige Funktion ist letzterdings gebunden an das sich trotzig verschließende, personal bestimmte Selbst, das sich, wie wir darlegten, auf keine rationale Verlockung der Welt einlässt. Diesem »verlorenen Sohn« ist durch bloß vermittelnde psychologische Bewusstmachung entscheidend nicht zu helfen. Das Selbst bedient sich wohl in seiner Isolierung zu seinen eigenen Zwecken der weltfähigen Ichfunktion, ist aber dem psychotherapeutischen Anspruch auf funktionale Differenzierung und Anpassung an die soziale Welt prinzipiell unzugänglich.
Das Selbst des neurotischen Menschen ist und bleibt das zufolge seiner Weltabkehr verschlossene, misstrauische und unbotmäßige Selbst, das es nun einmal geworden ist. Soll es von neuem und