Nehmen wir die Hausaufgaben: Vielen dieser Lernenden kann in der Familie niemand dabei helfen; vor allem die Frauen haben oft gar nicht die Zeit, sich mit Hausaufgaben zu beschäftigen, weil sie zum Beispiel auf die Kinder der Schwester aufpassen oder mit der Mutter zusammen putzen gehen müssen.
Solche Zusammenhänge sind vielen Lehrern nicht bewusst. Berufsschullehrer stammen häufig aus der Mittelschicht und wissen nicht, wie es in der Unterschicht aussieht. Sie kümmern sich auch kaum darum und sind dann erstaunt, wenn ein Teil der Lernenden die Aufgaben nicht gemacht haben – sie fragen aber auch nicht nach, was die Gründe sind. Das sind Themen, die man in Biel aufzunehmen beginnt.
Wie läuft ein solches Projekt ab?
Die Lehrer sensibilisieren, das ist der erste Schritt: Ich frage sie also: Wenn ihr im Sommer eine neue Klasse übernehmt, wie vermeidet ihr, einfach mit eurem Stoff anzufangen, ohne darauf zu achten, was das für Schüler sind, die in eurer Klasse sitzen? Wie erfasst ihr ihre Lernvoraussetzungen?
Dann stellt sich die Frage, wie man Früherfassung systematisieren kann. Was macht der ABU-Lehrer, was der Fachkundelehrer? Wo machen sie dasselbe, wissen aber nicht, was jeder tut? Anschliessend geht es darum, sich auszutauschen und zu organisieren, aufzuteilen, zu schauen, was noch fehlt.
Das, worum sich Lehrer häufig nicht kümmern, sind die überfachlichen Kompetenzen. Verbreitet sind Sprachstandsanalysen, die Fachlehrer erheben häufig auch die Mathekenntnisse; aber die überfachlichen Kompetenzen werden nicht systematisch erfasst. Zuverlässigkeit zum Beispiel kommt oft erst zur Sprache, wenn die Lernenden in dieser Hinsicht negativ auffallen. Dann ist es aber häufig zu spät. Aus wissenschaftlichen Studien, etwa von Evi Schmid oder Barbara Stalder, wissen wir, dass es zu Lehrabbrüchen meist nicht wegen mangelnder Leistung kommt, sondern wegen fehlender Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenzen, wie man früher sagte; wegen überfachlicher Kompetenzen, sehr häufig wegen mangelnder Selbstkompetenz.
Da müssten die Lehrer gründlicher hinschauen. Und wenn sie sich ein Bild gemacht haben, müssten sie die anderen Ausbildungspartner fragen: Wie zeigt sich der Schüler im überbetrieblichen Kurs, wie im Lehrbetrieb? Das wäre der nächste Schritt. Alle diese Schritte gehen wir nun in Biel miteinander an.
Anschliessend setze ich mich mit der Schulleitung zusammen, und wir überlegen aufgrund der Rückmeldungen, welche Art von Weiterbildung es als Nächstes braucht. In dieser Phase habe ich hauptsächlich eine beraterische Funktion. Meine Firma heisst Beruf-Bildung-Entwicklung GmbH. Manchmal braucht es alle drei Komponenten. Und manchmal werde ich aus einem ganz bestimmten Grund angefragt, und im Gespräch stellt sich dann heraus, dass etwas anderes gebraucht wird, manchmal gehe ich also mit einem ganz anderen Auftrag aus dem Raum, als ursprünglich geplant war.
Dann habe ich auch noch ein Hobby, das Projekt «Stopp Lehrabbruch» im Berner Oberland. Wenn wir einen Anruf bekommen, rufen wir innert vierundzwanzig Stunden zurück. Und innert achtundvierzig Stunden führen wir dann ein Gespräch mit den Beteiligten, wenn es gewünscht wird.
Nur ein Beispiel, um zu zeigen, wie das ablaufen kann: Eine Mutter ruft an, am ersten oder zweiten Dezember, und sagt: Jetzt hat doch der Lehrmeister meinem Sohn erklärt, wenn er sich nicht ändere, brauche er im Januar überhaupt nicht mehr zur Arbeit zu kommen. Ich dachte zunächst, es gehe um einen Lernenden im ersten Jahr; der Lehrmeister wollte ihm vielleicht einen Zwick mit der Geissel geben, damit er sich endlich in Bewegung setzte. Aber nein, es ging um einen Lehrling im letzten Lehrjahr, bei dem im Frühjahr die Prüfung bevorstand.
Die Mutter war eine Bauersfrau, alleinerziehend – der Vater war gestorben. Sie wusste schlicht nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Ich rief also den Lehrmeister an ...
… worum ging es denn?
Der junge Mann arbeite recht, hiess es, auch in Berufskunde stehe er bei einer Vierkommafünf – und könnte vermutlich sogar deutlich mehr leisten. Landschaftsgärtner würden aber in Pflanzenkunde geprüft, und Ädu habe nie Pflanzen gelernt, in diesem Fach stehe er bei einer Zwei. Manchmal kenne er zufällig eine Pflanze, mit der er schon praktisch zu tun hatte; die Lernenden müssten aber vierhundert Pflanzen kennen, mit lateinischem Namen. Pflanzenkunde sei ein Selektionsfach, mit einer ungenügenden Note falle Ädu durch die Prüfung. – Das also war das Problem: Der junge Mann hatte in einem bestimmten Bereich Mühe mit dem Lernen.
Ädu müsse nun halt jeden Samstag in die Bude kommen und lernen, meinte der Lehrmeister erst. Er selbst konnte ihn allerdings in keiner Weise unterstützen, Ädu wäre einfach morgens um acht angetrabt und hätte sich an den Tisch gesetzt, wo sie Kaffee trinken, wenn es kalt ist, und hätte da bis um drei gesessen und «gelernt». Dabei wusste der junge Mann überhaupt nicht, wie er das anpacken sollte.
Ich wollte also versuchen, Ädu beim Lernen zu unterstützen. Zunächst einmal ging es aber darum, ihm klar zu machen, was ihm als Düregheite blühen würde. Erst als er das einsah, konnten wir zusammen eine Lernstrategie entwickeln – vierhundert Pflanzen mit Namen, lateinischer Bezeichnung einfach auswendig zu lernen, das geht ja nicht. Also sammelte Ädu nun für jede Pflanze die wichtigsten Informationen zusammen, schrieb für jede einen Steckbrief und versuchte, die Pflanzen so zu gruppieren, dass er sie sich leichter merken konnte.
Ich habe die Familie auch zu Hause besucht. In der Stube konnte man unmöglich lernen, dort war alles überstellt mit Wäsche und was es in einem Bauernhaus halt so braucht. In der Küche konnte man ebenfalls nicht lernen. Also blieb nur das eigene Zimmer, das Ädu mit dem Bruder teilte. Da stand nun aber eine Spielkonsole. Ädu sagte mir: Wenn ich in mein Zimmer gehe, stelle ich den Computer an, und dann ist es eigentlich schon gelaufen. Also habe ich mit ihm einen Vertrag abgeschlossen: Er durfte jeden Abend gamen, aber er musste auch jeden Abend zwanzig Minuten lang Pflanzen lernen, nicht nur schnell-schnell für die Prüfung, wie bisher, sondern kontinuierlich. Jeden Abend, bevor er den Rechner anstellte, schickte er mir eine SMS, er habe jetzt zwanzig Minuten gelernt, und ich quittierte und machte einen Spruch in der Art: Magst nicht noch mal zwanzig Minuten ...
Ädu ist inzwischen Landschaftsgärtner mit EFZ.
Wie findet man euer Projekt?
Wir haben bisher an den Berufsfachschulen der Region Werbung gemacht, sonst aber wenig Öffentlichkeitsarbeit. Die Schüler bekommen einen Flyer und ein Kärtchen, aber in der Presse war bisher noch nichts zu lesen. Wir wollen erst einmal sehen, wie es läuft.
Das also ist mein Hobby. So etwas wollte ich immer schon machen – ich habe so viel vom Berufsbildungssystem profitiert, das ist sozusagen meine Rückzahlung.
Nach einigen Jahren Erfahrung kann ich sagen: Meist ruft man uns, wenn es schon fast zu spät ist. Wenn jemand frühzeitig anruft, ist es meist eine Mutter – nicht die Lehrer, nicht die Lehrmeister. Auch die Stifte meist erst, wenn sie die Lehrstelle schon verloren haben: Jetzt hat der mich heute Morgen weggejagt. Und ich sage: Heute ist doch Samstag? Und die Antwort: Ja, ich habe in der letzten Zeit glaueret, und der Lehrmeister hat mir gesagt, so geht es nicht, wir treffen uns am Samstagmorgen um neun in der Bude, ich zeige dir ein paar Sachen noch einmal, bei denen es in der letzten Zeit nicht geklappt hat, und wir üben. Es ging um einen Zimmereimitarbeiter, zweijährige Lehre. Natürlich verschlief er an dem fraglichen Samstag, und als er um zwanzig vor zehn erschien, sagt der Lehrmeister, weisst du was, du kannst die Kleider abgeben, brauchst sie gar nicht anzuziehen. Der Stift war völlig verdattert.
Wie gesagt: Nicht selten hapert’s bei den überfachlichen Kompetenzen. Bei der Zuverlässigkeit, der Pünktlichkeit.
Im Baugewerbe wird häufig in Equipen gearbeitet