Was die Welt ist, die wir retten wollen, ist also relativ.
Clemens G. Arvay: Es gibt offensichtlich seit dem Übergang der 1970er-Jahre in die 1980er-Jahre einen drastischen gesellschaftlichen Wandel, nämlich was die Lebenswerte betrifft. Zwischen 1966 und 2002 gab es in den USA eine mehrere Jahrzehnte andauernde Umfrage unter Studentinnen und Studenten, um herauszufinden, was ihnen im Leben wichtig war, was sie also als wesentlich für das eigene Leben beurteilten. Wenn man sich das Ergebnis dieser Umfrage ansieht, stellt man deutliche Veränderungen im Laufe der Zeit fest. Am Beginn der Studie war es für die meisten, nämlich für mehr als 80 Prozent, besonders wichtig, eine bedeutungsvolle Lebensphilosophie zu entwickeln. Für den geringeren Teil war es entscheidend, finanziell sehr gut aufgestellt zu sein und viel Geld zu verdienen. Dann begannen sich diese Einstellungen allmählich zu verändern. Im Jahre 1977 hielten sich die Angaben exakt die Waage: Viel Geld zu verdienen und die bedeutende Lebensphilosophie waren den Befragten in etwa gleich wichtig. Bis zur Mitte der Neunzigerjahre drehte sich das ursprüngliche Verhältnis dann um. Seither – und die Studie wurde bis 2002 fortgesetzt – spielt der finanzielle Status für den größten Teil der Studenten, nämlich für etwa 75 Prozent, die herausragende Rolle und nur mehr circa 40 Prozent gaben an, dass ihnen eine bedeutende Lebensphilosophie ein Anliegen sei5.
Meiner Meinung nach sagt das sehr viel aus und ich wundere mich eigentlich, wenn ich mir diese Entwicklung ansehe, nicht mehr darüber, dass die Lebensphilosophie, das „gute Leben“, gesellschaftlich betrachtet spürbar in den Hintergrund getreten ist. Diese Ausrichtung von immer mehr Menschen auf materiellen Erfolg ist in unserer Welt stark präsent.
Roland Düringer: Diese Tendenz habe ich auch beobachtet. Ich selbst bin ja im Jahr 1963 geboren und daher ein Kind der Zeit, in der sich die Werte laut dieser Statistik in den Siebzigerjahren völlig umgedreht haben. Ab da ging es mit dem Wunsch, finanziell besser aufgestellt zu sein, stark bergauf. Das Entscheidende war, dass man einmal materiell besser dastehen wollte, das hörte ich auch von meinen Eltern immer wieder: „Du sollst es einmal besser haben als wir.“ Mit „besser haben“ war immer gemeint, mehr zu besitzen, weil wir „mehr“ und „besser“ sehr leicht miteinander verwechseln. Natürlich hat meine Generation jetzt mehr: Mehr Stress, mehr Schulden, mehr seelisches Leid, mehr Nahrungsmittelunverträglichkeiten, mehr chronische Krankheiten und natürlich viel mehr Entscheidungsmöglichkeiten. Zu viele Entscheidungsmöglichkeiten, die unsere Köpfe so richtig rauchen lassen.
Wir wissen, dass drei mehr als zwei ist, was auch völlig korrekt ist. Falsch wird die Rechnung erst, wenn man glaubt, dass drei auch besser als zwei sei und genau in diesem Wahn stecken wir momentan. Diese Sichtweise relativiert sich aber rasch: Bei Ohrfeigen zum Beispiel. Bei einer wirklich „festen Fotz’n“ – so würde man in Wien sagen – reicht eine einzige durchaus aus, da brauche ich nicht drei davon.
Heute lautet das Prinzip: „Mehr ist besser. Vor allem mehr Geld ist besser.“ Wir haben mehr Geld, alle, die gesamte Welt hat mehr Geld als jemals zuvor. Geht es uns deswegen wirklich besser? Die Leute schreien nach mehr Geld und sie bekommen mehr Geld, weil dieses Geld ja relativ einfach gemacht werden kann. Irgendjemand tippt Zahlen in einen Computer und dabei wird Geld „erschaffen“, das es vorher nicht gegeben hat. Virtuelles Geld. Das heißt, es gibt mehr Geld, nur macht das keinen Sinn mehr. Auch, wenn ich mir für unser Geld immer weniger kaufen kann, wenn ich also stetig weniger dafür bekomme, hat es keinen Sinn, mehr von dem Geld zu besitzen, denn wenn ich mit dem Mehr einer gewissen Sache letztendlich weniger von dem bekomme, was ich wirklich brauche, um gut zu leben, dann ist das ein vollkommener Unsinn. So ist es, wie ich glaube, in sehr vielen Bereichen des Lebens passiert. Wir haben das Gefühl für das richtige Maß verloren, für den Punkt, ab dem es genug ist und wo man sagen kann: „Gut, alles, was jetzt darüber hinausgeht, ist nicht mehr sinnvoll, ist schlecht.“
Bis zu einem gewissen Grad ist eine stetige Steigerung natürlich ein Gewinn. Ab einem gewissen Punkt kann sie hingegen sogar schädlich werden. In manchen Fällen ist die Steigerung zwar nicht schädlich, aber einfach nur sinnlos, zum Beispiel in einem Wirtshaus. Wenn ich dort fünf Euro eingesteckt habe, dann reicht das für ein Getränk. Wenn ich 25 Euro eingesteckt habe, reicht es für ein Getränk und etwas zu essen. Wenn ich 50 Euro dabeihabe, kann ich schon wirklich sehr, sehr gut essen und kann mir einiges leisten.
Wenn ich fürs Wirtshaus 200 Euro eingesteckt habe, kann ich sogar jemanden einladen. Wenn ich aber 5000 Euro ins Wirtshaus mitnehme, dann ist das völlig sinnlos. Ich kann damit nicht mehr machen, dann habe ich einfach nur mehr Angst, dass mir dieses Geld jemand wegnehmen könnte.
Wenn ich eine Million Euro eingesteckt habe, dann kann ich natürlich das ganze Haus samt Wirtshaus kaufen, obwohl ich ja eigentlich nur ein gutes Essen wollte.
Vorausblickend denken
In allen Bereichen des Lebens muss man die Schwelle erkennen, ab der man zu sich selbst sagt: „Das ist jetzt genug. Alles darüber kostet mich etwas und birgt sogar Gefahren.“ Diesen Punkt sollte man nicht übersehen. Darum mag ich das Motorradfahren, denn dabei führt das Hinausschießen über Grenzen unmittelbar zu einer Rückkopplung: Schmerzen. Ich fuhr Motocross und Endurorennen, also im Gelände, aber auch auf asphaltierten Rennstrecken. Das Motorrad hat bekanntlich zwei Räder und es fällt um, wenn man es irgendwo abstellt. Es stabilisiert sich in Bewegung durch die Kreiselkräfte, die dabei entstehen. Du bist mit deinem Motorrad ein Gesamtsystem in labilem Gleichgewicht und diese Balance gilt es auch in Kurven zu halten, obwohl die Fliehkräfte ja dagegen arbeiten. Man fährt also in eine Kurve und das einzige, das einen Sturz verhindert, ist der Grip zwischen Boden und Reifen. Je schlechter der Asphalt oder der Reifen, desto schlechter der Grip und desto eher liegst du auf der Nase, oder zumindest am Hintern. Die Reifen haben beim Motorradfahren über eine runde Auflagefläche Kontakt zur Straße. Wenn du dich so richtig in die Kurve hineinlegst, wird diese Kontaktfläche immer kleiner, bis irgendwann nur mehr eine ganz schmale Kante von zwei oder drei Millimetern aufliegt und der Rest des Reifens vom Asphalt abgelöst ist. In Schräglage entscheiden dann diese wenigen Millimeter Gummi, ob es dich vom Motorrad herunterreißt oder nicht. Da braucht man wirklich Gefühl im Hintern. Man muss wissen, wann es genug ist, wann man „runter vom Gas!“ sagen muss.
Unter Motorradfahrern gibt es einen Spruch, der lautet: „Besser viel zu langsam als ein bisschen zu schnell“. Wenn man das nicht einhält, kann es wehtun. Mit einem Rennauto ist das nicht mehr so, da bist du ja nicht Teil eines Gleichgewichtssystems, sondern nur die Steuereinheit. Beim Fahren tut sich dann deutlich weniger und Fehler führen zu geringeren negativen Rückkopplungen. Schlitterst du mit einem Auto auf einer Rennstrecke aus der Kurve, fährst du in den Sturzraum, eine Schotterfläche, und kommst vermutlich ungeschoren davon. Mit einem Motorrad tut das hingegen richtig weh und ab dem Moment, in dem du am eigenen Leib erfahren hast, dass Motorradfahren wehtun kann, verhältst du dich ganz anders. Der, der nicht dazulernt und das eigene Verhalten am Motorrad ändert, spielt mit seinem Leben oder trägt womöglich bleibende Schäden davon.
Im Leben wollen wir – im übertragenen Sinne – diese Grenzbereiche nicht wahrnehmen. Oft können wir es auch nicht, muss man fairerweise dazu sagen. Wir spüren im Leben die unmittelbaren negativen Rückkopplungen nicht, die uns das Motorrad ohne Zeitverzögerung übermittelt. Wenn du mit dem Motorrad in eine Kurve hineinfährst, spürst du, wenn es über das Vorderrad zu rutschen anfängt. Bei vielem, das wir im Leben tun, wenn wir über das Ziel hinausschießen, bekommen wir zuerst sogar eine positive Rückkopplung und keine negative. Das Abreißen des Grips passiert dann nicht wie auf dem Motorrad „jetzt“, sondern zeitverzögert, irgendwann später. Der Sturz, der Crash, passiert also erst in der Zukunft.
All das, was wir seit den Siebzigerjahren ansteuern – seit diese Statistik gemacht wurde, die wir uns gerade angesehen haben –,