Venus in echt. Rhea Krcmárová. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rhea Krcmárová
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990010877
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      Rhea Krčmářová: Venus in echt

      Alle Rechte vorbehalten

      © 2013 edition a, Wien

      www.edition-a.at

      Lektorat: Dino Beck

      Cover und Gestaltung: Hidsch

      Druck: Theiss (www.theiss.at)

      eBook-ISBN 978-3-99001-087-7

      eBook-Herstellung und Auslieferung:

       Brockhaus Commission, Kornwestheim

       www.brocom.de

      KAPITEL 1

      Von meinem Platz an der Rückwand des Festsaals aus sah ich, wie Christian den Raum betrat und auf die Bühne zuging, und mein Herz fühlte sich an wie der Motor von Prinzessin Peachs Rennwagen, wenn sie über die Rennstrecke in Mario Kart rast. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn noch besser sehen zu können. Sollte ich seinen Namen rufen? Lieber nicht, dachte ich, und hoffte, er würde mich von sich aus bemerken. Stattdessen nickte Christian zwei jungen Werbern mit Hornbrillen zu und lächelte eine Gruppe Frauen an, die in der ersten Reihe saßen, aufgereiht wie die Vögel aus Angry Birds beim Warten auf das Katapult. Wie hatte er es geschafft, eine Frau mit meinen Dimensionen zu übersehen, die noch dazu keine zwei Meter neben der Eingangstür stand, durch die er gekommen war? Ich atmete tief ein und schluckte meine Enttäuschung hinunter. Hauptsache, Christian war endlich hier. Zaghaft machte ich einen Schritt nach vorne. Los, Romy, dachte ich. Sprich ihn an. Frag ihn endlich, ob er nach dem Vortrag mit dir einen Kaffee trinken gehen will. Das ist deine allerletzte Chance, bevor er sein Sabbatical antritt und du ihn vielleicht für immer aus den Augen verlierst.

      Ich zögerte. Ihn vor seiner Präsentation anzusprechen, war eher keine gute Idee. Ich würde ihn aus der Konzentration reißen, und die Blicke von mehr als zweihundert Menschen auf mich ziehen. Der ganze Saal würde sich fragen, warum diese fremde fette Frau es wagte, den Starredner des Nachmittags zu belästigen. Ich lehnte mich wieder an die Wand und beschloss, erst nach dem Vortrag zu ihm zu gehen. Beinahe vier Jahre hatte ich gebraucht, um den Mut für diesen Versuch aufzubringen, fast 1.400 Tage. Da kam es auf diese eine Stunde auch nicht mehr an.

      Am anderen Ende des Saals erklomm Christian das Treppchen zur Bühne und rückte seinen Laptop neben dem Rednerpult zurecht. Ich seufzte. Seit mehr als zwei Stunden stand ich mir nun schon im überhitzten und überfüllten Prunksaal des Wiener Innenstadtpalais die Beine in den Bauch und ließ Vorträge über Re-Branding und Werbestrategien über mich ergehen, die mich ungefähr so sehr interessierten wie einen Oger ein Handbuch über Webdesign. Dabei musste ich bis Ende der Woche mein aktuelles Game-Projekt fertigstellen, und morgen würde ich für zwei Tage nach London zu einem Vorstellungsgespräch fliegen. Um Christian heute ansprechen zu können, würde ich bis weit nach Mitternacht vor dem Computer sitzen und die versäumte Zeit nachholen müssen.

      Um die Langeweile der vorangehenden Vorträge besser zu ertragen, hatte ich mir vorgestellt, eine Kampfelfe aus meinem Lieblingscomputerspiel Knights of the Dragon Isle zu sein. Ich hatte den Saal im Geiste in die Versammlungshalle der untergehenden Insel verwandelt und die Werbemenschen in die wikingerartigen Kostüme des Großen Rats gesteckt. Wirklich geholfen hatte es nicht. Die neuen Stiefeletten mit den Acht-Zentimeter-Absätzen, die ich extra für heute gekauft hatte, trieben mir inzwischen Tränen des Schmerzes in die Augen. Ich fragte mich, ob mein Gewicht meine Qualen noch schlimmer machte oder ob dünne Frauen in neuen Schuhen genauso litten.

      Die Werbeleute im Saal waren zum Glück zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um meine inneren Tumulte wirklich zu bemerken. Ich war die einzige dicke Frau im ganzen Raum, und die Blicke, die ich deswegen auf mich zog, reichten ohnehin, dass sogar jemand wie ich sich unrund fühlte.

      Zumindest konnte ich Christian wieder im wirklichen Leben sehen, nicht nur online und in meinen Fantasien. Ich fragte mich, ob ihn mein Vorschlag überraschen würde. Vermutlich schon, dachte ich. Schließlich war ich geübt darin, meine Gefühle für ihn zu verbergen. Nur meinen besten Freunden Olga und Cem hatte ich meine Verliebtheit gebeichtet. Ich wusste zu gut, wie lächerlich die Vorstellung für die meisten Menschen war, ein Mann wie Christian könnte sich in eine Frau wie mich verlieben. Christian, da war sich die Gesellschaft einig, spielte in einer anderen Liga als ich. Er war, was man einen Macher nannte, ein Mann, dessen Agentur die Social-Media-Szene aufmischte, er war erfolgreich, sportlich und von einer in sich ruhenden Selbstsicherheit. Ich passte kein bisschen in das Beuteschema, das man einem Mann wie ihm zuschrieb. Auf meinem Nachttisch stapelten sich Fantasyromane und Computerzeitschriften, ich fand Gerüchte über neue Smartphone-Entwicklungen aufregender als sämtlichen Klatsch aus Hollywood und ich konnte stundenlang mit Freundinnen über die Unterschiede zwischen den Büchern und den Verfilmungen von »Der Herr der Ringe« diskutieren. Ich war, mit anderen Worten, ein Geek. Noch dazu einer, der locker das Doppelte von den superschlanken Elfen aus der Werbewelt wog, und ich kannte keinen einzigen Mann in seiner Position und mit seinem Aussehen, der eine Frau oder Freundin mit meinen Proportionen hatte. Vielleicht war es ein Fehler, überhaupt hier zu sein, und die Idee, ihn anzusprechen, eine Wahnvorstellung. Würde er mich auslachen, wenn ich ihm ein Date vorschlug, wie er es manchmal in meinen Alpträumen tat, aus denen ich zittrig und schweißüberzogen hochschreckte? Würde er mir ins Gesicht sagen, dass ich für einen Mann wie ihn schlicht und ergreifend zu fett war?

      Nein, dachte ich. Christian war anders als die meisten Männer, die ich kannte. Seit unserer ersten Begegnung hatten mich seine Einfühlsamkeit fasziniert, sein Talent, unter die Oberfläche blicken zu können. In einem zynischen, aggressiven Umfeld schaffte er es, galant und höflich zu bleiben – er war gegenüber Botenfahrern und Praktikanten genauso aufmerksam wie gegenüber seinen besten Kunden. Er merkte sich, was ich beim Smalltalk in der Büroküche von mir gab, und fragte sogar nach, wie es meinen Katzen ging. Ein Mann wie Christian konnte es schaffen, durch meine Fettschichten hindurchzusehen und sich in mein Wesen zu verlieben.

      Damit er mich aber besser kennenlernen konnte, musste ich in seiner Nähe sein, und das war schwieriger, als im Alleingang ein Bossmonster aus World of Warcraft zu besiegen. Seit meine Freundin Olga und ich vor einem halben Jahr das letzte kleine Online-Spiel-Projekt für einen Kunden seiner Agentur abgeschlossen hatten, hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ich hatte gehofft, ihm auf dem Weg ins Bauchtanzstudio zu begegnen, das im selben Haus lag wie sein Büro, oder ihn in einem der Lokale in der Nähe seiner Agentur mehr oder weniger zufällig zu treffen, doch weder das eine noch das andere war mir gelungen. Die einzigen Zeichen, dass ihn keine Schar von Dämonen gefressen, waren seine deprimierend seltenen Statusupdates auf Twitter oder Facebook. Für den Chef einer Social-Media-Agentur war Christian leider erstaunlich diskret.

      Dank der automatischen Google-Benachrichtigung, die ich für ihn eingerichtet hatte, hatte ich zumindest von seinem heutigen Vortrag erfahren. Als ich gelesen hatte, dass dies sein letzter öffentlicher Auftritt vor einem längeren Sabbatical war, fühlte ich mich, als wäre mein Herz in den Kometenkrater von Diablo III gefallen. Dieser Vortrag war meine letzte Chance, mich zu überwinden und ihm endlich zu gestehen, was ich für ihn empfand. Obwohl ich in der Schlussphase dieses Game-Projekts war, hatte ich einen halben Vormittag darauf verwendet, in meinem LinkedIn, Xing und in sonstigen Netzwerken jemanden zu finden, der mir die Tür zu dieser geschlossenen Veranstaltung öffnen konnte, und jetzt bemerkte er mich nicht einmal.

      Die Lichter im Raum gingen aus und Christian verschwand im Halbschatten der Bühne. An der Saalwand erschien das Bild eines Wellnesshotels irgendwo an der Baumgrenze, und Christian erzählte von der Social-Media-Strategie, die er für das Hotel entwickelte. Der Enthusiasmus in seiner Stimme ließ ein Prickeln durch meinen ganzen Unterbauch laufen. Ich versuchte, sein Gesicht zu erkennen, und wünschte mir, es wäre in Großaufnahme zu sehen. Ich kannte sein Gesicht gut, hatte immer wieder Fotos aus dem Internet abgezeichnet und mir beim Skizzieren jedes Detail eingeprägt: seine schmalen Wangen, die kleine Narbe an der Schläfe, die Sommersprossen,