Gleichzeitig erweist sich in der Schweiz ein zweiter Schultyp der Sekundarstufe II als wichtiger Zubringer für das Studium Primarstufe: die Fachmittelschule (FMS)[5] mit Fachmaturität Pädagogik. Als allgemeinbildende Mittelschule bereitet die FMS auf verschiedene Berufsausbildungen im Tertiärbereich vor – so auch auf die Ausbildung zur Primarlehrperson an PH. Üblicherweise nach dem ersten Schuljahr entscheiden sich die Schülerinnen und Schüler für ein Berufsfeld (z. B. Gesundheit oder Pädagogik) und erhalten dort neben vertiefter Allgemeinbildung Unterricht in berufsfeldspezifischen Fächern. Nach drei Jahren kann im Anschluss an den Fachmittelschulausweis die Fachmaturität erworben werden. Die Fachmaturität Pädagogik wurde 2007 eingeführt und besteht aus einem Lehrgang in Erst- und Fremdsprache, Mathematik, Natur- und Sozialwissenschaften, der Fachmaturitätsarbeit und einem Examen (EDK, 2012). Sie ermöglicht schweizweit formal prüfungsfreien Eintritt in den Studiengang Primarstufe an PHs[6] – ein Weg, den 85 Prozent der Absolvierenden einschlagen (Babel et al., 2018, S. 29). Sie tragen damit in hohem Maße zum Wachstum der PH-Studierendenzahlen bei[7] (Denzler, 2018). In den letzten zehn Jahren hat sich der Anteil Studieneintritte in PHs über eine Fachmaturität fast verdoppelt und beträgt im schweizerischen Durchschnitt heute rund 30 Prozent, an einzelnen PHs bis zu 50 Prozent (SKBF 2018, S. 260). Zeitgleich sind PH-Eintritte via gymnasiale Maturität von 60 Prozent auf rund 40 Prozent[8], an einzelnen PHs bis auf 20 Prozent gesunken (a. a. O.). Diese Entwicklung ist nicht nur angesichts der skizzierten Vorgeschichte der gymnasialen Schwerpunktfächer Musik, BG und PPP erklärungsbedürftig, sondern auch aufgrund des umstrittenen Status der FMS als PH-Zubringerin im Kontext der Tertiarisierung der LLB (Capaul & Keller, 2014; Kiener, 2004).[9]
Die unterschiedliche Bedeutung der beiden PH-Zubringer lediglich mit ungleichen Eintrittsbedingungen und Hochschulzugangsberechtigungen[10] zu erklären, würde an dieser Stelle zu kurz greifen. Im Anschluss an die Schulkulturforschung wird im vorliegenden Beitrag davon ausgegangen, dass bestimmte schulische Profile nicht nur gewisse Gruppen von Schülerinnen und Schülern anziehen, sondern als Sozialisationsumfeld auch weitere Bildungsbiografien prägen (Böhme, Hummrich & Kramer, 2015). Neben statistischen Untersuchungen zu Übertrittsabsichten (z. B. Ramseier et al., 2005; Denzler & Wolter, 2009) und -quoten (SKBF, 2018) sowie Studienwahlmotiven und sozialen Merkmalen von Gymnasiasten und Gymnasiastinnen, die sich für den Lehrberuf entscheiden (z. B. Denzler & Wolter, 2009; Keck Frei, Berweger, Denzler, Bieri Buschor & Kappler, 2012), existiert bisher keine Forschung, die das Verhältnis zwischen Gymnasium und FMS als PH-Zubringer in den Blick nimmt und deren unterschiedliche Bedeutung zu erklären vermag. Daher geht dieser Beitrag der Frage nach, warum die gymnasialen Schwerpunktfächer Musik, BG und PPP nur begrenzt Bedeutung als Zubringer zum Studium Primarstufe haben und wie die hohe Bedeutung der FMS Pädagogik[11] als PH-Zubringerin erklärt werden kann.
Ziel ist, exemplarisch anhand der Dimensionen «Bildungsziele», «Wissensformen» und «Modi der Wissensvermittlung» zentrale Spezifika der beiden Schulprofile kontrastierend darzustellen und auf dieser Basis Gründe für ihre unterschiedliche Bedeutung als PH-Zubringer zu diskutieren.
2Theoretischer Rahmen zur Analyse schulischer Profile
Den theoretischen Rahmen hierfür bildet die Soziologie der Konventionen beziehungsweise die «Économie des Conventions» (EC) (Boltanski & Thévenot, 2007; Diaz-Bone, 2018). Für die vorliegende Fragestellung sind Konventionen als Wertigkeitsordnungen relevant, wie sie von Boltanski und Thévenot (2007) herausgearbeitet und von Derouet (1992) auf die Institution Schule übertragen wurden. Konventionen sind historisch gewachsene, gesellschaftlich etablierte und in materiellen Umwelten objektivierte Prinzipien, auf die sich Akteure in Prozessen der Koordination und Bewertung beziehen. Mit Referenz auf Konventionen schreiben Akteure – gestützt auf die materielle Umwelt – Handlungen (z. B. der Wahl eines Bildungswegs), Personen (z. B. Lehrpersonen) und Objekten Wertigkeit zu, «valorisieren» sie[12] (Diaz-Bone, 2018). Der «Wert» eines Bildungsziels ist also nicht objektiv feststellbar, sondern wird von den beteiligten Akteuren konventionenbasiert ausgehandelt. Im Bildungsbereich haben sich Konventionen unter anderem in der Analyse von Bildungsungleichheit und -gerechtigkeit, von Governance und Transformation von Bildungsinstitutionen sowie von Klassifikationen, Bewertungen und Qualitätsurteilen als empirisch bedeutsam erwiesen (für einen Überblick vgl. Imdorf, Leemann & Gonon, 2019). Für den vorliegenden Beitrag sind die in Tabelle 1 aufgelisteten Konventionen relevant.
Tabelle 1: Übersicht über relevante Konventionen
Konvention | Bewertungsprinzip | Hohe Wertigkeit |
Staatsbürgerlich | Allgemeininteresse, Vorrang des Kollektivs, zivilgesellschaftlicher Zusammenhalt | «Savoir abstrait», theoretisches Wissen, Konzepte und Modelle, Intellekt, Allgemeinwissen als general knowledge, Unparteilichkeit, Übernahme zivilgesellschaftlicher Verantwortung |
Häuslich | Familie, Gemeinschaft, Tradition, Sozialisation, Nähe, Hierarchie, Handwerk, Meisterschaft | «Savoir-être», Charakter(bildung), Erziehung, Anleitung, Vormachen und Nachahmen («Meisterlehre»), Autorität, persönliche Beziehungen, handwerklich-körperliche Praxis |
Inspiriert | Inspiration, Berufung | Kreativität, Charisma, intrinsische Motivation, Leidenschaft |
Industriell | Effizienz, Expertise, Funktionalität, Kompetenz, Wissenschaftlichkeit | «Savoir-faire», Leistung, (Berufs-)Fachlichkeit als Fachkompetenz, Problemlösewissen, Nützlichkeit, Vorbereitung auf arbeitsteilige Gesellschaft, langfristige Planung |
Eigene Darstellung, basierend auf Boltanski & Thévenot (2007); Diaz-Bone (2018); Derouet (1992); Leemann & Imdorf (2019)
Zentral ist die Annahme, dass meist mehrere Konventionen als Wertigkeitsmaßstäbe zur Verfügung stehen (Diaz-Bone, 2018). Dadurch entstehende Widersprüche äußern sich in Kritik und können durch Kompromisse gelöst werden. Konventionen und Kompromisse werden durch materielle (z. B. Schulgesetze, Curricula) oder kognitive Formate (z. B. Klassifikationen wie Allgemein- oder Berufsbildung) stabilisiert, wodurch sie an Reichweite und Einfluss gewinnen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die forschungsleitende Frage nach der Bedeutung beider untersuchter Schulprofile als eine der konventionengestützten Zuschreibung von Wertigkeit: Wie können die gymnasialen Schwerpunktfächer Musik, BG und PPP sowie die FMS Pädagogik bezüglich zugrunde liegender Konventionen und stabilisierender Formate charakterisiert und darauf basierend ihre unterschiedliche Bedeutung als PH-Zubringer erklärt werden?
3Methodisches Vorgehen
Zur Beantwortung dieser Frage wurde ein qualitatives