Lehrberuf: Vorbereitung, Berufseinstieg, Perspektiven (E-Book). Mirjam Kocher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mirjam Kocher
Издательство: Bookwire
Серия: Professionsforschung zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783035515817
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Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Die Ausbildung für Lehrpersonen der Volksschule findet heute in der Schweiz an Pädagogischen Hochschulen (PH) statt. Noch bis in die 1990er-Jahre dominierte das seminaristische Ausbildungsmodell auf Sekundarstufe II (Criblez & Lehmann, 2016), das sich durch einen starken Fokus auf musische, gestalterische und pädagogisch-psychologische Fächer sowie handwerkliche Tätigkeiten und frühe Berufspraxis auszeichnete (Müller, 1975). Im Rahmen der Tertiarisierung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung (LLB) Ende der 1990er-Jahre wandelten viele Kantone ihre ehemaligen Lehrerinnen- und Lehrerseminare in Gymnasien um (Criblez & Lehmann, 2016). In diesem Kontext ermöglichte die neue Maturitätsanerkennungsvereinbarung von 1995 mit der Einführung der Schwerpunktfächer[2] Musik, Bildnerisches Gestalten (BG) und Philosophie/Pädagogik/Psychologie (PPP) die Weiterführung (ehemals seminaristischer) musisch-pädagogischer Schwerpunkte auf der Sekundarstufe II (a. a. O.). Die neuen Schwerpunktfächer wurden in der Folge als «bereichsspezifische Vorbildung für die tertiäre LLB» und als «funktionales […] Äquivalent» zu den ehemaligen Unterseminaren (a. a. O., S. 55), das Gymnasium als klassischer Weg in die LLB institutionalisiert. Angesichts dieser Wurzeln der gymnasialen Schwerpunktfächer Musik, BG und PPP in der seminaristischen LLB[3] erstaunt nicht, dass sie von allen Schwerpunktfächern die höchsten Übertrittsquoten an PHs aufweisen (Babel, Strubi & Veselá, 2018). Überraschend ist aber der relativ geringe Anteil: Die Übertrittsquoten ins Studium Primarstufe an PH liegen bei 16 Prozent im Schwerpunktfach Musik, bei 14 Prozent in PPP und 10 Prozent in BG (a. a. O., S. 28[4]).

      Gleichzeitig erweist sich in der Schweiz ein zweiter Schultyp der Sekundarstufe II als wichtiger Zubringer für das Studium Primarstufe: die Fachmittelschule (FMS)[5] mit Fachmaturität Pädagogik. Als allgemeinbildende Mittelschule bereitet die FMS auf verschiedene Berufsausbildungen im Tertiärbereich vor – so auch auf die Ausbildung zur Primarlehrperson an PH. Üblicherweise nach dem ersten Schuljahr entscheiden sich die Schülerinnen und Schüler für ein Berufsfeld (z. B. Gesundheit oder Pädagogik) und erhalten dort neben vertiefter Allgemeinbildung Unterricht in berufsfeldspezifischen Fächern. Nach drei Jahren kann im Anschluss an den Fachmittelschulausweis die Fachmaturität erworben werden. Die Fachmaturität Pädagogik wurde 2007 eingeführt und besteht aus einem Lehrgang in Erst- und Fremdsprache, Mathematik, Natur- und Sozialwissenschaften, der Fachmaturitätsarbeit und einem Examen (EDK, 2012). Sie ermöglicht schweizweit formal prüfungsfreien Eintritt in den Studiengang Primarstufe an PHs[6] – ein Weg, den 85 Prozent der Absolvierenden einschlagen (Babel et al., 2018, S. 29). Sie tragen damit in hohem Maße zum Wachstum der PH-Studierendenzahlen bei[7] (Denzler, 2018). In den letzten zehn Jahren hat sich der Anteil Studieneintritte in PHs über eine Fachmaturität fast verdoppelt und beträgt im schweizerischen Durchschnitt heute rund 30 Prozent, an einzelnen PHs bis zu 50 Prozent (SKBF 2018, S. 260). Zeitgleich sind PH-Eintritte via gymnasiale Maturität von 60 Prozent auf rund 40 Prozent[8], an einzelnen PHs bis auf 20 Prozent gesunken (a. a. O.). Diese Entwicklung ist nicht nur angesichts der skizzierten Vorgeschichte der gymnasialen Schwerpunktfächer Musik, BG und PPP erklärungsbedürftig, sondern auch aufgrund des umstrittenen Status der FMS als PH-Zubringerin im Kontext der Tertiarisierung der LLB (Capaul & Keller, 2014; Kiener, 2004).[9]

      Die unterschiedliche Bedeutung der beiden PH-Zubringer lediglich mit ungleichen Eintrittsbedingungen und Hochschulzugangsberechtigungen[10] zu erklären, würde an dieser Stelle zu kurz greifen. Im Anschluss an die Schulkulturforschung wird im vorliegenden Beitrag davon ausgegangen, dass bestimmte schulische Profile nicht nur gewisse Gruppen von Schülerinnen und Schülern anziehen, sondern als Sozialisationsumfeld auch weitere Bildungsbiografien prägen (Böhme, Hummrich & Kramer, 2015). Neben statistischen Untersuchungen zu Übertrittsabsichten (z. B. Ramseier et al., 2005; Denzler & Wolter, 2009) und -quoten (SKBF, 2018) sowie Studienwahlmotiven und sozialen Merkmalen von Gymnasiasten und Gymnasiastinnen, die sich für den Lehrberuf entscheiden (z. B. Denzler & Wolter, 2009; Keck Frei, Berweger, Denzler, Bieri Buschor & Kappler, 2012), existiert bisher keine Forschung, die das Verhältnis zwischen Gymnasium und FMS als PH-Zubringer in den Blick nimmt und deren unterschiedliche Bedeutung zu erklären vermag. Daher geht dieser Beitrag der Frage nach, warum die gymnasialen Schwerpunktfächer Musik, BG und PPP nur begrenzt Bedeutung als Zubringer zum Studium Primarstufe haben und wie die hohe Bedeutung der FMS Pädagogik[11] als PH-Zubringerin erklärt werden kann.

      Ziel ist, exemplarisch anhand der Dimensionen «Bildungsziele», «Wissensformen» und «Modi der Wissensvermittlung» zentrale Spezifika der beiden Schulprofile kontrastierend darzustellen und auf dieser Basis Gründe für ihre unterschiedliche Bedeutung als PH-Zubringer zu diskutieren.

      Den theoretischen Rahmen hierfür bildet die Soziologie der Konventionen beziehungsweise die «Économie des Conventions» (EC) (Boltanski & Thévenot, 2007; Diaz-Bone, 2018). Für die vorliegende Fragestellung sind Konventionen als Wertigkeitsordnungen relevant, wie sie von Boltanski und Thévenot (2007) herausgearbeitet und von Derouet (1992) auf die Institution Schule übertragen wurden. Konventionen sind historisch gewachsene, gesellschaftlich etablierte und in materiellen Umwelten objektivierte Prinzipien, auf die sich Akteure in Prozessen der Koordination und Bewertung beziehen. Mit Referenz auf Konventionen schreiben Akteure – gestützt auf die materielle Umwelt – Handlungen (z. B. der Wahl eines Bildungswegs), Personen (z. B. Lehrpersonen) und Objekten Wertigkeit zu, «valorisieren» sie[12] (Diaz-Bone, 2018). Der «Wert» eines Bildungsziels ist also nicht objektiv feststellbar, sondern wird von den beteiligten Akteuren konventionenbasiert ausgehandelt. Im Bildungsbereich haben sich Konventionen unter anderem in der Analyse von Bildungsungleichheit und -gerechtigkeit, von Governance und Transformation von Bildungsinstitutionen sowie von Klassifikationen, Bewertungen und Qualitätsurteilen als empirisch bedeutsam erwiesen (für einen Überblick vgl. Imdorf, Leemann & Gonon, 2019). Für den vorliegenden Beitrag sind die in Tabelle 1 aufgelisteten Konventionen relevant.

KonventionBewertungsprinzipHohe Wertigkeit
StaatsbürgerlichAllgemeininteresse, Vorrang des Kollektivs, zivilgesellschaftlicher Zusammenhalt«Savoir abstrait», theoretisches Wissen, Konzepte und Modelle, Intellekt, Allgemeinwissen als general knowledge, Unparteilichkeit, Übernahme zivilgesellschaftlicher Verantwortung
HäuslichFamilie, Gemeinschaft, Tradition, Sozialisation, Nähe, Hierarchie, Handwerk, Meisterschaft«Savoir-être», Charakter(bildung), Erziehung, Anleitung, Vormachen und Nachahmen («Meisterlehre»), Autorität, persönliche Beziehungen, handwerklich-körperliche Praxis
InspiriertInspiration, BerufungKreativität, Charisma, intrinsische Motivation, Leidenschaft
IndustriellEffizienz, Expertise, Funktionalität, Kompetenz, Wissenschaftlichkeit«Savoir-faire», Leistung, (Berufs-)Fachlichkeit als Fachkompetenz, Problemlösewissen, Nützlichkeit, Vorbereitung auf arbeitsteilige Gesellschaft, langfristige Planung

      Eigene Darstellung, basierend auf Boltanski & Thévenot (2007); Diaz-Bone (2018); Derouet (1992); Leemann & Imdorf (2019)

      Zentral ist die Annahme, dass meist mehrere Konventionen als Wertigkeitsmaßstäbe zur Verfügung stehen (Diaz-Bone, 2018). Dadurch entstehende Widersprüche äußern sich in Kritik und können durch Kompromisse gelöst werden. Konventionen und Kompromisse werden durch materielle (z. B. Schulgesetze, Curricula) oder kognitive Formate (z. B. Klassifikationen wie Allgemein- oder Berufsbildung) stabilisiert, wodurch sie an Reichweite und Einfluss gewinnen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die forschungsleitende Frage nach der Bedeutung beider untersuchter Schulprofile als eine der konventionengestützten Zuschreibung von Wertigkeit: Wie können die gymnasialen Schwerpunktfächer Musik, BG und PPP sowie die FMS Pädagogik bezüglich zugrunde liegender Konventionen und stabilisierender Formate charakterisiert und darauf basierend ihre unterschiedliche Bedeutung als PH-Zubringer erklärt werden?

      Zur Beantwortung dieser Frage wurde ein qualitatives