Das Angebot, in die Berufsschule zu wechseln, erschien Roswitha daher wie ein Geschenk des Himmels. Die Arbeitsstunden muteten läppisch an, im Vergleich zur Achtzig-Stunden-Woche, die sie gewöhnt war. Neun Wochen Urlaub im Sommer, Weihnachtsferien, Osterferien, Fenstertage – aus Roswithas bisherigem Blickwinkel weniger als ein Halbtagsjob. Auf das Unterrichten freute sie sich. Als Betriebsleiterin hatte sie immer ein besonderes Naheverhältnis zu den Lehrlingen gespürt, einen auffallend guten Draht zu ihnen gehabt, auf sie eingehen und so manchen Obstinaten davon überzeugen können, dass ein abgeschlossener Lehrberuf besser wäre, als ein Hilfsarbeiter-Dasein. Erstmals seit langem schien die Welt angenehm gefügt zu sein.
Ein paar Jahre später ergab sich an der Schule die Beziehung mit dem gleichaltrigen Kurt, der Roswitha wegen ihres Elans und Optimismus, mit dem sie das Schulleben beflügelte, als seine Traumfrau erkannte, nachdem er sich endlich von seiner schwer depressiven Frau gelöst hatte.
Vor fünf Jahren erlebt Roswitha dann erstmals einen seelischen Einbruch. Sie tritt verfrüht in die Menopause ein und hat massiv mit ihrem Selbstbild als Frau zu kämpfen. Das umso mehr, als Kurt gerade zu diesem Zeitpunkt einen Kinderwunsch äußert, der trotz massiver hormoneller Stimulation als letztendlich unerfüllbar akzeptiert werden muss. Roswitha, die gewohnt ist, sich mit eiserner Disziplin alles abzuverlangen und damit bisher immer erfolgreich war, erlebt sich als Versagende. Gleichzeitig steht das Paar unter enormem finanziellem Druck. Die Schulden für das sehr exklusive Eigenheim sind als ständige Mahnung präsent und Kurt muss seiner Ex-Frau, um seiner Kinder willen, finanziell stärker unter die Arme greifen, als dies die Alimentationsforderungen vorgesehen haben, da diese durch ihre Depression nun endgültig langfristig arbeitsunfähig ist.
Roswitha entwickelt die Überzeugung, funktionieren zu müssen. Alte Gefühle, nicht als eigenständiger Mensch gesehen und geliebt zu werden, sondern nur über die gegebene Leistung Wertschätzung erlangen zu können, tauchen nun sowohl in der Beziehung zu Kurt wie auch in ihrem beruflichen Umfeld auf. Durch ihr weit über ihre fachlichen Aufgaben hinausreichendes Engagement für die Schüler hat sie längst verschiedene Zusatzaufgaben übernommen. War sie früher durch ihre Position als Problemlöserin für die oft in schwierigen sozialen Verhältnissen lebenden Lehrlinge und dem damit im Lehrkörper verbundenen Ruf inspiriert, beginnt sie jetzt zunehmend Entfremdung, Gefühle von Ohnmacht und Sinnlosigkeit zu erleben. Dies erreicht nach einem gemeinsamen Heurigenbesuch des Lehrkörpers in feuchtfröhlicher Stimmung seinen Höhepunkt, als der gemeinsame Tenor der Kollegen unter großem Gaudium eine „Dienst nach Vorschrift“-Haltung und völliges Desinteresse an den auszubildenden Lehrlingen nahelegt.
Es war, als wäre es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, beschreibt sie die Situation. Sie habe sich völlig verraten gefühlt, wie ein lächerlicher Idiot in einem System, das seine Klienten schon lange abgeschrieben und aufgegeben hat. In den Folgemonaten beginnt Roswitha zunehmend vom Rest des Lehrkörpers abzurücken. Ihre Kollegen gehen ihr auf die Nerven, erscheinen ihr verschlagen, unehrlich. Es kommt zum Streit mit einem Kollegen, der allen Schülern, die dem Unterricht nicht folgen wollen, gestattet, sich mit ihren Handys in den hinteren Bankreihen zu beschäftigen. Es ist derselbe Kollege, der die Schularbeitsergebnisse gleichzeitig mit den Angaben ausgibt, um damit die Resultate zu verbessern. So manipuliert funktioniert das System nach außen reibungslos. Roswitha fühlt sich angesichts der duldenden Mitwisserschaft der anderen Kollegen immer mehr an den Rand gedrängt. Gleichzeitig erlebt sie ein Gefühl von Auszehrung und Sinnlosigkeit, wird unleidlich gegenüber ihren Schülern, fühlt sich auch von ihnen ausgenützt. Kurt legt ihr mehr Realismus nahe und rät ihr, sich besser abzugrenzen.
Dann treten morgens auf dem Weg zur Schule in der U-Bahn Angstgefühle auf, die sie immer öfter zwingen, ihren Weg zu unterbrechen. Kurz darauf bilden sich an Schultagen, morgens nach dem Aufwachen, in Minutenschnelle nervöse, juckende Ausschläge im Gesicht, am Hals und im Dekolleté-Bereich. Ein paar Wochen später beginnt Roswitha an hartnäckigen Durchfällen zu leiden und Kreislaufbeschwerden zu entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt sind die Schule, die Kollegen und die Schüler bereits ein rotes Tuch für sie. Roswitha hat eine zynische, resignative Weltsicht entwickelt, die sie unter Aufbringung größter Anstrengung vor allen zu verbergen trachtet. Alles ist ihr zu viel. Ihr Direktor, der mit Kurt und ihr befreundet ist, versucht sie aus dem Schussfeld zu bringen. Zuerst wird ihre Dienstverpflichtung auf ihren Wunsch hin auf drei Tage zusammengelegt, um ihr genügend Regenerationspausen zu ermöglichen. Von ihren Zusatztätigkeiten, einstmals mit Enthusiasmus übernommen, erfährt sie Entbindung. In einem nächsten Schritt, als sie das Unterrichten als schwer aushaltbare Belastung erlebt, kann sie die Funktion als Klassenvorstand zurücklegen, ihre Stundenbelastung von der Unterrichtstätigkeit zurückfahren und in einen administrativen Bereich verlagern.
In den letzten beiden Jahren umfasst Roswithas aktive Lehrbeauftragung noch vier Unterrichtsstunden. Das System hat in Gestalt des befreundeten, äußerst kooperativen Direktors für maximale Entlastung gesorgt. Trotzdem beginnt Roswitha das diesjährige Schuljahr nach den Sommerferien subjektiv erschöpfter, als sie sich noch vor dem Sommer gefühlt hat. Die unterschiedlichsten körperlichen Beschwerden, ein Hörsturz zwei Wochen nach Schulbeginn und nur mit schweren Schlafmitteln beherrschbare Schlafstörungen kennzeichnen die letzten Wochen vor unserem Termin…
Arbeitsüberlastung, Tempodruck, mangelnde Mitsprache in der Gestaltung des Arbeitsfelds, Mobbing, autoritäre Führungskultur, Verweigerung von Anerkennung – all das, was man unter anderem einem Burnout begünstigenden Arbeitsumfeld zuschreibt, konnte für Roswithas spezielle Situation nicht ins Feld geführt werden. Keiner dieser Faktoren kam hier als Auslöser in Betracht. Ganz im Gegenteil, Roswithas Führungsverantwortlicher, ihr Direktor, hatte vieles unternommen, um ihr den Verbleib auf ihrer Position und damit ihren Bezug sichern zu können, bis hin zu ausgeklügelten Plänen von offizieller Anwesenheit an unterrichtsfreien Tagen und Krankenständen für Tage mit Unterrichtsverpflichtung. Sie hatte nahezu selbstbestimmt in ihrer Zeitgestaltung und ohne Fertigstellungsdruck die von Verantwortung weitgehend entbundenen Administrationstätigkeiten, quasi als Schonung, übernehmen können und die inzwischen verhasste Klassenlehrertätigkeit bis auf ein minimales Segment zurücklegen dürfen. De facto war es ihr durch eine Bereitschaft zur Supplierung durch andere Kollegen und gezielte Krankenstände gelungen, im ersten Unterrichtssemester gerade einmal für vier Stunden ein Klassenzimmer zu betreten – und das mit voller Toleranz der Organisation.
Roswitha selbst wiederum konnte beim besten Willen unter Einrechnung ihrer Lebensgeschichte, die sie in ihren Details als äußerst belastbare Person auswies, nicht als ein leicht zur Überforderung neigender Mensch gesehen werden. Sie wies zwar jene Grundcharakteristiken auf, die Menschen für Burnout gefährdet erscheinen lassen – Ehrgeiz, Genauigkeit, hohe Identifikation mit der Organisation, stark prosoziale Einstellung, hohe Bereitschaft zu selbstkritischem Verhalten und eine gewisse Tendenz, ihren Selbstwert über die von ihr erbrachte Leistung zu definieren – doch liegen weitaus belastendere Perioden ihres Lebens bereits hinter ihr, womit der völlige Zusammenbruch in dieser Lebensphase zunächst unnachvollziehbar anmutet.
Roswitha