In der Beobachtung der Veränderung dieses sozialen Kollektivs wurde mir deutlich vor Augen geführt, dass nicht das Arbeits- und Lebensumfeld für sich genommen Ursachen eines Ausbrennens sind, wie auch nicht in der Persönlichkeit des einzelnen Menschen die wirkliche Grundlage zu finden ist. Sondern es handelt sich um ein dynamisches „misfit“ zwischen Arbeits- und Lebensumfeld einer bestimmten Person einerseits und ihren Anlagen, Kompetenzen, Möglichkeiten, Strategien, Überzeugungen und Werten andererseits.
Es handelt sich also um eine Art Passungsfehler zwischen Individuum und Umwelt, ein Auseinanderklaffen zwischen dem was das System braucht und zu geben im Stande ist und dem, was das betroffene Individuum braucht und zu geben im Stande ist. Diese Feststellung enthält sich grundsätzlich noch jeder Bewertung. Beide Bereiche können begünstigende Faktoren aufweisen, doch ihnen die „Schuld“ zuzuschieben, wäre viel zu kurz gegriffen. Und doch löst gerade das Thema Schuld einen heiß umkämpften Grabenkrieg aus.
Die Mär vom schlechten Menschenmaterial und der miesen Organisationskultur
Vertreter der bürgerlichen, unternehmerischen Sphäre, die traditionell den Leistungsgedanken hochhalten und nur in einer ungebremsten Wachstumskultur die Zukunft sehen, neigen dazu, den Burnout-Patienten als „minderwertiges Material“ einzustufen. Ein Warmduscher und Weichei, einer, mit dem kein Pokal zu gewinnen ist, ein „Psycherl“, das noch immer seine Kindheit als Generaldispens seiner Inkompetenz und Anstrengungsverweigerung als Schild vor jeder Anforderung vor sich her trägt. Und das in diesen Zeiten, wo der globale Markt zu Höchstleistung drängt, wo es gilt, das Überleben des Unternehmens mit größter Härte und Selbstaufgabe als höchstes Ziel beständig vor Augen zu haben, wo jeder Muskel angespannt werden muss, um den Konkurrenzkampf zu gewinnen.
Burnout-Patienten in einem Unternehmen sind unangenehm. Sie werfen Fragen auf. Fragen, die, wie man dumpf in den Eingeweiden und dem „Flüstern auf den Gängen“ spürt, die Potenz haben könnte, Grundlegendes, Systemisches anzukratzen. Burnout-Patienten lösen damit vielleicht sogar Angst aus, sodass man sich landläufig doch dafür entscheidet, sich von Unternehmensseite kulant zu zeigen, um keinen Staub aufzuwirbeln, die Betroffenen vordergründig zu streicheln, wenn man sich ihrer nicht mehr zeitgerecht hat entledigen können.
In einer Art von vorauseilendem Gehorsam, gleichsam um eine weiße Weste vorweisen zu können, werden Burnout-Beauftragte installiert. Oder aber man beauftragt dafür Unternehmensberater, um eine Art Ablasszahlung zu leisten und Gesinnungsreinheit zu demonstrieren. Vorgesetzte erlernen dann die notwendigen Tricks für das Burnout-präventive Mitarbeitergespräch lege artis. Mitarbeiter wiederum lernen, wie sie ihren Schreibtisch besser entrümpeln oder ihre Mailverwaltung auf überblickbare Dimensionen bringen. Dafür gibt es ausgefeilte Systeme, um zweitägige Workshops rechtfertigen zu können, und keiner hat später Material in der Hand, um behaupten zu können, dass das Unternehmen nicht etwas für die Burnout-Prophylaxe getan hätte. Die Implementierung von vordergründig ambitionierten Programmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung mit Tai-Chi-Stunden, gesunder Werksküche sowie Time- und Organisationsmanagement-Seminaren war der „Megatrend“ der vergangenen Jahre.
In diesem Punkt der Schulungsoffensive sind sich Unternehmen meist mit ihren Betriebsräten einig, die sonst gehörig ins Horn der gegen Arbeitnehmer gerichteten Ausbeutung blasen. Als Haken erweist sich für die Vertreter der Arbeitnehmer allerdings, dass sämtliche angebotenen Präventions- und Lösungsversuche davon ausgehen, dass die wesentlichen Bedingungen für das Entstehen des Syndroms ausschließlich in der Persönlichkeitsstruktur (etwa Neigung zu Idealismus, Perfektionismus und Definition über Leistung) liegen sollen.
Betriebsräte sind heute ihrer historisch so wesentlichen Funktion beraubt, tatsächliche Arbeitsausbeutung und unmenschliche Arbeitsbedingungen zu bekämpfen. Deshalb fahren sie oft einen Kurs, der mit großem Pathos eine Art Kuschelpädagogik von Unternehmensseite fordert. Da eine Burnout bedingende Arbeitsüberlastung angesichts ausgefeilter Arbeitszeitbeschränkungen und Ruhezeitverordnungen in einer überregulierten Arbeitswelt schwer plausibel gemacht werden kann, zaubert man gerne andere Faktoren aus dem Hut. Arbeitsdichte oder Arbeitsverdichtung, ständige Erreichbarkeit, enge Zeitvorgaben, ungelöste Konflikte und fehlende soziale Unterstützung, Arbeitsplatzunsicherheit sowie ein ständiger Anpassungsdruck an neue Bedingungen, sind stark vom subjektiven Erleben gefärbte Aspekte, die für die chronische Überlastung und Überforderung verantwortlich sein sollen. Damit sollen die vom Arbeitnehmer kommenden „Antworten“ wie innere Kündigung, reduzierte Leistungs- und niedrige Innovationsbereitschaft sowie hohe Fehlerquoten als logische Konsequenzen plausibel gemacht und dem Unternehmen der schwarze Peter zugeschoben werden. Schützenhilfe kommt von den Krankenkassen, die angesichts der steilen Anstiege bei psychisch bedingten Krankenstandstagen meinen, dass das Platzen diverser Wirtschaftsblasen und die nachfolgende Wirtschaftskrise bei den Menschen Wirkung zeigt.
Eine Evaluierung von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz durch Arbeitsmediziner und Arbeitspsychologen ist von dieser Warte aus das Gebot der Stunde. Mit Online-Fragebögen soll jeder Mitarbeiter sein Unternehmen nach dem ihm zugemuteten Stress beurteilen, woraus sich ein Forderungskatalog ergibt und sich die Positionen „Böses Unternehmen“ versus „ausgebeuteter Arbeitnehmer“ als Grundgesetz wieder einmal bestätigen lassen. Massen-Breakdowns wegen Strukturfehlern sozusagen, was hierzulande die Arbeiterkammer zur Forderung gegenüber dem zuständigen Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit sowie dem Gesetzgeber treibt, die Mitwirkungsrechte der Betriebsräte bezogen auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen (insbesondere durch Erweiterung des Kataloges der erzwingbaren Betriebsvereinbarungen) zu stärken.
Dabei ist es ein sinnloses Unterfangen, dieses Ballett um die wechselseitige Schuldzuweisung zwischen Arbeitgeber und -nehmer anzuheizen, das nur dazu dient, Fronten zu verhärten und Beweise in arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen zu liefern. Eine Arbeitgeberseite, die ihre Mitarbeiter wie „Material“ behandelt und den individuell menschlichen Aspekt der Einbettung in eine Sinnstruktur verleugnet, wird à la lounge immer Schiffbruch erleiden. Eine Arbeitnehmerseite jedoch, die einer Wehleidigkeitskultur anhängt, Anpassung und dynamische Entwicklung, ja jede Leistungsforderung als Zumutung erlebt und für jeden Arbeitsplatz Bedingungen einer geschützten Werkstätte fordert, verhält sich letztendlich analog zu Eltern, die dem Erziehungsstil des laissez faire anhängen und damit dafür sorgen, dass ihre Kinder hart an die Wand der Realität sozialer Grenzen und Machbarkeiten knallen.
Freilich kommt Unternehmen in der Auseinandersetzung mit dem immer lauter werdenden Problem des Burnout eine wesentliche Rolle zu. Natürlich gilt es, als Anforderung des neuen Jahrtausends Unternehmenskultur neu zu reflektieren und zu definieren, ja in großem Umfang eine Sinnfrage zu stellen und daraus abgeleitet organisationelle Neustrukturierungen abzuleiten. Das ist allerdings etwas anderes, als ein Pflaster aus grüner Betriebsküche, einer geförderten Yogastunde und einem Anschwärzungsbriefkasten, auch wenn „whistle blowing“ seit neuestem salonfähig ist. Faktum ist, dass Unternehmen, statt zum gemeinsamen Ort der Unternehmung zu werden, so gegenwärtig nur zu leicht zum Schlachtplatz nutzloser ideologischer Kämpfe mutieren. Denn beide Seiten haben letztlich mit dieser Schuldzuschreibung der jeweils anderen Gruppe gegenüber einen bequemen Parkplatz für die Diskussion geschaffen. Damit tragen sie, jede auf ihre Weise, in einer Form unbewusster Konspiration dazu bei, dass nicht genauer hinterfragt wird. Es mutet wie ein lautstarkes Ablenkmanöver an, das den Blick auf sich konzentrieren soll, um nicht auf die tatsächlichen Grundlagen der Misere blicken zu müssen.
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