Berufsabschluss für Erwachsene in der Schweiz. Markus Mäurer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Mäurer
Издательство: Bookwire
Серия: hep praxis
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9783035503548
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des BBT wurde für das schweizerische Berufsbildungssystem eine Form von Modularisierung entwickelt, die für unsere weiteren Überlegungen wegleitend ist (Widmer et al., 1999). Jedes Modul bereitet auf eine Handlungskompetenz vor, die mit einem Kompetenznachweis überprüft wird. Jedes Modul wird ferner in einer Modulidentifikation beschrieben, die auch Voraussetzungen, Anerkennung fremder Lernleistungen und Gültigkeitsdauer des Nachweises festlegt (BBT, 2000a, S. 43–52).

      In diesem Kapitel geht es zunächst um die Entwicklung der beruflichen Grundbildung für Erwachsene in der Schweiz. Wir zeigen, welche Intentionen in den verschiedenen Entwicklungsperioden massgebend waren. Dies liefert die Basis für den zweiten Abschnitt, in dem wir begründen, welche Ziele ein auf Erwachsene ausgerichtetes Angebot verfolgt.

      Berufliche Grundbildung für Erwachsene ist keine neue Errungenschaft, wie der folgende Abriss zeigt.[6]

      3.1.1 Direkte Zulassung zur Abschlussprüfung

      Der direkte Zulassung zur Abschlussprüfung (QV, → Abschnitt 5.1) war anfänglich als Übergangslösung gedacht: Ab 1933 konnten Jugendliche über eine Berufslehre eidgenössisch anerkannte Berufsabschlüsse erlangen. Wer schon früher, mit oder ohne Lehrvertrag, einen Beruf erlernt hatte, sollte aber ebenfalls einen anerkannten Abschluss erwerben können. Deshalb sah das erste, 1930 erlassene Bundesgesetz zur Berufsbildung (Berufsbildungsgesetz, 1930) für Erwachsene mit mehrjähriger Berufspraxis (aber nur für sie) die Zulassung zur Lehrabschlussprüfung ohne vorgängige Lehre vor. Das Prozedere war indessen auch damals nicht neu, sondern fusste auf ähnlichen Bestimmungen in kantonalen Gesetzen aus dem 19. Jahrhundert (Suter, 2013, S. 8).

      Die direkte Prüfungszulassung für Erwachsene mit mehrjähriger Berufspraxis wurde in jede neue Fassung des Berufsbildungsgesetzes übernommen, denn immer wieder gab es Personen, die berufliche Kompetenzen auf informellem Weg erworben hatten und im Erwachsenenalter vor der Notwendigkeit standen, einen anerkannten Abschluss nachzuholen.

      Zudem entwickelten sich ständig neue Technologien, für die es noch keine regulären Ausbildungen gab, zum Beispiel Automobiltechnik, Elektrotechnik, Kunststoffverarbeitung oder Informatik. Andere Bereiche verselbstständigten sich, zum Beispiel Kosmetik oder Logistik. So entstanden fortwährend neue Berufe und – mit einigen Jahren Verzögerung – auch neue Abschlüsse und damit das Bedürfnis der Pioniere, nachträglich das eidgenössisch anerkannte Zertifikat zu erwerben.

      Allerdings beschritten meist Personen, die bereits über eine berufliche Grundbildung verfügten, diesen Weg. Indizien dafür lieferte eine Untersuchung, nach der im Jahr 1991 die Hälfte der Personen, die über die direkte Zulassung zur Abschlussprüfung einen Abschluss erwarben, bereits über eine abgeschlossene Erstausbildung verfügten (Häfeli & Bolli, 1991). In einer andern Studie (Schräder-Naef & Jörg-Fromm, 2005) wurde dieser Anteil 2001 sogar auf 90 Prozent geschätzt.

      3.1.2 Verkürzte Grundbildung

      Ein anderer Weg, der vor allem bei einem Berufswechsel infrage kommt, ist die verkürzte zweite Grundausbildung. Auch diese Möglichkeit ist schon seit 1930 gesetzlich vorgesehen: Wer bereits über gewisse Kenntnisse verfügt – zum Beispiel aus seinem früheren Beruf –, kann eine Verkürzung seiner zweiten Berufslehre beantragen (→ Abschnitt 5.4).

      Wichtig waren immer schon kürzere Ausbildungen, die zu einem zwar nicht staatlich anerkannten, aber doch arbeitsmarktrelevanten Abschluss führen; diese Art von Ausbildung wird in Abschnitt 5.5 beschrieben.

      3.1.3 Wiedereinstieg

      Berufsbildung für Erwachsene wird immer dann zum Thema, wenn ein konjunkturelles Hoch oder eine Begrenzung der Einwanderung einen Fachkräftemangel zur Folge hat – und in solchen Phasen erinnert man sich stets auch an die Frauen, die im Zusammenhang mit einer Familienphase ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben haben. Um sie dem Arbeitsmarkt wieder zuzuführen, entstanden im dritten Drittel des letzten Jahrhunderts die Wiedereinstiegkurse. Anfänglich ging es dabei vor allem um das Auffrischen beruflicher Fertigkeiten, zum Beispiel im Umgang mit Schreibsystemen, später mit Computern für Kauffrauen, um neue Pflegekonzepte und Gerätschaften bei Pflegerinnen. Bei anderen Programmen geht es eher um die Vertiefung von sozialen Kompetenzen und oft gleichzeitig auch um einen Berufswechsel, beispielsweise von einer kaufmännischen Tätigkeit in die Betreuung (→ Abschnitt 5.8).

      3.1.4 Förderung von «Gastarbeitern»

      Arbeitskräftemangel führte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Zustrom wenig qualifizierter Arbeitnehmer aus Südeuropa und später aus den Balkanstaaten und der Türkei. Gewerkschaften aus Italien, später in Zusammenarbeit mit Schweizer Arbeitnehmerorganisationen, nahmen sich ab 1970 der beruflichen Förderung dieser Personen an und boten Kurse in Allgemeinbildung (terza media) und Deutsch an, lange auch berufsspezifische Ausbildungskurse als Vorbereitung auf Abschlüsse des italienischen, in geringerem Ausmass auch des schweizerischen Berufsbildungssystems (vgl. Bozzolini, 2015).

      3.1.5 Kompetenzbilanzen und Validierungsverfahren

      Das Validierungsverfahren (→ Abschnitt 5.2), erstmals geregelt im Bundesgesetz aus dem Jahr 2002, geht zum einen auf die Initiative von Frauenverbänden zurück und hatte ursprünglich die Förderung der Gleichberechtigung durch Anerkennung von informell, insbesondere in der Familienphase erworbenen Kompetenzen zum Ziel (Költzsch Ruch, 1997). 1994 verlangte die Luzerner Nationalrätin Judith Stamm, Präsidentin des Bundes Schweizerischer Frauenorganisationen, in einer Motion die «Schaffung eines Berufsbildungsbuchs, das laufend erbrachte, gezielte Bildungsleistungen […] bestätigt und anerkennt» (Calonder Gerster, 2000).

      Anderseits entstanden in Genf zur gleichen Zeit – in Anlehnung an französische Modelle – centres de bilan, die bilans de compétences ausarbeiteten (Kadishi et al., 1998, S. 25–28; Morand-Aymon, 2004). Im Kanton Wallis wurden ab 1995 erste (kantonal) anerkannte Ausweise abgegeben, basierend auf Kompetenzbilanzen und Arbeitsproben, aber ohne Abschlussprüfung (Kadishi et al., 1998, S. 29–33).

      Angeregt unter anderem durch die bereits erwähnte Motion Stamm, die auch «ein durchlässiges Aus- und Weiterbildungssystem» verlangt hatte, schrieb das Biga ein Programm zur Entwicklung und Erprobung von «Baukastensystemen» aus, in dessen Rahmen von 1995 bis 1999 zahlreiche Pilotprojekte durchgeführt und die Systeme weiterentwickelt wurden (Widmer et al., 1999). Auch die Anerkennung nichtformal erworbener Kompetenzen war Thema des Programms. Ab 1995 fanden in verschiedenen Kantonen Pilotversuche mit dem Validierungsverfahren statt, deren Resultate (Wolf, Wilhelm & Zuberbühler, 2009b) Grundlage eines 2010 erlassenen Leitfadens des Bundes waren (BBT, 2010a). Die Stellen für Berufs- und Laufbahnplanung engagierten sich im Bereich der Kompetenzbilanzen und schufen in fast allen Kantonen spezielle «Eingangsportale» für interessierte Erwachsene.

      3.1.6 Armutsbekämpfung und Integration als Ziel der Berufsbildung für Erwachsene

      Bereits 1928 stellte der Bundesrat fest, dass im Zusammenhang mit Rationalisierungsbestrebungen «Hilfsarbeiter und Handlanger entbehrlich» würden und dass somit das Fehlen eines Berufsabschlusses ein grosses Risiko darstelle (Schweizerischer Bundesrat, 1928, S. 732). 1931 fanden erste Kurse zur Heranbildung von Maurern und Konfektionsschneiderinnen statt. 1935 wurden die sogenannten Berufslager initiiert, um Arbeitslosen eine berufliche Ausbildung zu ermöglichen (Wettstein, 1987, S. 55f). Bei der Revision der Arbeitsmarktmassnahmen