2.1 Berufsabschluss
Obwohl es auch für Erwachsene seit Jahrzehnten Möglichkeiten gibt, eine berufliche Grundbildung zu erwerben oder informell erworbene Kompetenzen anerkennen zu lassen, fehlt es nach wie vor an treffenden, von allen Beteiligten einheitlich verwendeten Ausdrücken für entsprechende Angebote. Man spricht (fälschlicherweise) von «Abschluss nach Art. 32 (BBV)», veraltet vom «Abschluss nach Art. 41», oder man verwendet die etwas gewundene Formulierung des «direkten Zugangs zum Qualifikationsverfahren». Die Bezeichnung «Nachholbildung» wird für Unterschiedliches genutzt, im Übrigen zuweilen als abwertend empfunden; das «Validierungsverfahren» wird teilweise auf sämtliche Formen der Berufsbildung für Erwachsene bezogen. Glücklich, wer sich mit Erwachsenen an Mittelschulen befasst: In diesem Bereich wurden mit dem «zweiten Bildungsweg», der zur «Erwachsenenmatur» führt, Begriffe gefunden, die heute geläufig sind und von allen verstanden werden. Wir hingegen sahen uns gezwungen, mit «Berufsabschluss» einen Begriff zu benutzen, der den Kernpunkt der Thematik, den Erwerb und die Anerkennung von Kompetenzen, nicht trifft und zudem an das unselige und veraltete «ausgelernt sein» erinnert.
2.1.1 Formale und nichtformale Berufsabschlüsse
Unter «Berufsabschluss» verstehen wir Zertifikate, die formale oder nichtformale Berufsausbildungen bestätigen. Gegenüber Dritten wird damit bescheinigt, dass die zertifizierte Person über bestimmte berufliche Kompetenzen verfügt.
Dazu gehören in der Schweiz zunächst die Abschlüsse der beruflichen Grundbildung (EBA und EFZ) und der höheren Berufsbildung, die durch das Berufsbildungsgesetz (BBG) geregelt sind und sich deshalb als formale Berufsabschlüsse bezeichnen lassen. Wir rechnen jedoch auch Abschlüsse nichtformaler Ausbildungen dazu, etwa der Lehrgänge des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) für Pflegehelferinnen und Pflegehelfer oder Ausbildungen von Handelsschulen, die zu einem Bürofach- oder einem Handelsdiplom führen (→ Abschnitt 5.5). Massgebend ist für uns, dass die Ausbildung strukturiert erfolgt (also nicht einfach informell in einem Betrieb) und dass das Zertifikat durch eine Organisation (z. B. durch einen Berufsverband, eine Schule) verliehen wird. Ebenfalls zu den nichtformalen Berufsabschlüssen zählen wir staatlich anerkannte, aber nicht auf dem BBG basierende Abschlüsse. So erfordert etwa das Führen gewisser Baumaschinen ein Zertifikat der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva), das sich auf eine Verordnung des Bundes bezieht.[3]
Für dieses Buch ist die Berücksichtigung nichtformaler Berufsabschlüsse von zentraler Bedeutung: Zum einen sind viele dieser Abschlüsse trotz mangelnder staatlicher Anerkennung im Arbeitsmarkt etabliert. Zum andern handelt es sich häufig um eher niederschwellige Abschlüsse (→ z. B. Abschnitt 7.9), die in kürzerer Zeit erreicht werden und geringqualifizierten Erwachsenen oft ein erstes Erfolgserlebnis ermöglichen, das ihnen den Einstieg in anspruchsvollere Ausbildungen erleichtert.
2.1.2 Funktion von Berufsabschlüssen
Zertifikate «sind Medien der Ungewissheitsreduktion, sie erklären etwas für (relativ) gewiss» (Moser, 2003, S. 42). Sie haben dabei unterschiedliche Funktionen. Für die zertifizierte Person tragen sie zur Identitätsstiftung bei, sie begründen Ansprüche im Arbeitsmarkt und im Bildungssystem und haben eine Orientierungsfunktion. Arbeitgebern, Kunden und Behörden geben sie eine gewisse Sicherheit bei der Frage, was vom Zertifikatsinhaber erwartet werden kann (Moser, 2003, S. 42 f.).
Im Unterschied zu Abschlüssen allgemeinbildender Schulen bestätigen Berufsabschlüsse den Erwerb von Kompetenzen, die in bestimmten beruflichen Tätigkeiten vorausgesetzt werden. Die grosse Bedeutung der Handels- und Gewerbefreiheit in der Schweiz hat zur Folge, dass ein beträchtlicher Teil aller Berufstätigkeiten auch von Personen ohne einschlägigen Berufsabschluss ausgeübt werden kann und dass diese Personen – etwa im Unterschied zu Deutschland – sogar Unternehmen gründen und leiten dürfen. Je nach Branche ist der Anteil unqualifizierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jedoch unterschiedlich hoch: So sind im Gastgewerbe oder in der Bauwirtschaft die Anteile wesentlich höher als etwa im Versicherungswesen.
Berufsabschlüsse können jedoch Zugänge zu weiterführenden Ausbildungen eröffnen. So erlaubt ein EFZ den Übertritt in die höhere Berufsbildung (je nach Bildungsgang allerdings erst nach mehreren Jahren Berufspraxis), ein EBA den Einstieg in eine verkürzte Grundbildung in Vorbereitung auf ein EFZ.
2.1.3 Steigende Bedeutung von Zertifikaten
In jüngerer Zeit haben Berufsabschlüsse in der Arbeitswelt insgesamt an Bedeutung gewonnen. Diese Tendenz lässt sich etwa in der Maschinenindustrie beobachten, wo bis in die 1960er-Jahre eine grosse Mehrheit der Arbeitenden über keinen anerkannten Abschluss verfügte. Heute legt die Industrie viel Wert auf eine mit Zertifikaten dokumentierte Berufsbildung, unter anderem, weil sie im Rahmen von Qualitätssicherungssystemen nachgewiesen werden muss.
Diese Entwicklung hat zur Folge, dass Personen ohne staatlich anerkannte Ausbildung auf Sekundarstufe II signifikant stärker von Arbeitslosigkeit betroffen und somit armutsgefährdet sind als der Bevölkerungsdurchschnitt. Entsprechend ist es auch aus sozialpolitischer Perspektive entscheidend, dieser Bevölkerungsgruppe den Zugang zum Erwerb von Kompetenzen und Abschlüssen zu ermöglichen (→ Abschnitt 3.2).
Zweifellos haben wir es hier mit einem sich selbst verstärkenden Prozess zu tun: Die ständige Höhergewichtung von Ausweisen führt einerseits zu einer steigenden sozialen Nachfrage nach Abschlüssen, andererseits zu einer Entwertung zunächst des Erfahrungslernens und schliesslich selbst von einzelnen beruflichen Abschlüssen. In diesem Sinne vertritt eine Studie von Avenir Suisse die Auffassung, dass sich auch mit einem EFZ die Teilhabe in der sozialen Mitte der Bevölkerung nicht mehr langfristig sichern lässt (Schellenbauer & Müller-Jentsch, 2012). Der schweizerische Mittelstand ist somit – gemäss dieser These – zunehmend auf Weiterbildungen und auf Ausbildungen auf Tertiärstufe angewiesen, um im Arbeitsmarkt zu bestehen und sozial nicht abzusteigen.
2.1.4 Zur Ungleichwertigkeit formal gleichwertiger Abschlüsse
Formal eigentlich gleichwertige Abschlüsse haben auf dem Arbeitsmarkt nicht zwingend den gleichen Wert: Allgemein bekannt ist, dass ein Bachelor- oder Master-Titel einer angesehenen Hochschule mehr wert ist als ein vergleichbarer Abschluss einer unbekannten Schule, dass (mindestens in der Schweiz) Abschlüsse staatlicher Schulen meist höher bewertet werden als solche privater Schulen. Ähnliches gilt auch für die Berufsbildung: Eine Lehre in einem angesehenen, bekannten Unternehmen wird höher gewertet und ist deshalb auch begehrter als eine im gleichen Beruf in einem unbekannten Kleinbetrieb. Dies ist ein Grund, weshalb das Arbeitszeugnis des Lehrbetriebs, das zusammen mit dem staatlichen Ausweis anlässlich des Lehrabschlusses abgegeben wird, oft mindestens so wichtig ist wie der Ausweis selbst.
In unserem Zusammenhang ist auf die Gefahr hinzuweisen, dass Berufsbildungsabschlüsse, die nicht auf dem Weg der regulären Grundbildung erworben wurden, nicht als gleichwertig eingestuft werden. Dies zeigt sich etwa beim Validierungsverfahren: Es führt zwar zu einem anerkannten Abschluss (EFZ/EBA). Weil aber keine Abschlussprüfung abgelegt wird und weil dies auch im Notenausweis ersichtlich ist, wird die Gleichwertigkeit von den Betrieben und den OdA zum Teil angezweifelt. Ähnliches gilt für die verkürzte Grundbildung: Manche erwachsene Lernende bezweifeln, dass sie den gleichen Wert hat wie eine reguläre Grundbildung – selbst wenn die Verkürzung im Notenausweis nicht sichtbar wird.
2.2 Beruflich geringqualifizierte Erwachsene
Wir konzentrieren uns in diesem Buch auf Erwachsene ab 25 Jahren ohne Berufsabschluss oder mit einem Abschluss, der seinen Wert in der Arbeitswelt