Gross und Hausmann: Revolution gegen die eigenen Konventionen
Hausmann nannte Otto Gross und Franz Jung die psychoanalytischen Quellen des Berliner Dadaismus (vgl. Bergius 1993, 79). An einer anderen Stelle schrieb er sogar, dass der Dadaismus 1918 in Berlin Fuß fassen konnte, »weil ihm die Zeitschrift ›Die Freie Straße‹ eine psychologische Grundlage bot« (in Schuhmann 1991, 167). Er sah hier »eine neue, gegen Freud gerichtete Psychoanalyse; es war Otto Gross, der die Grundformel gefunden hatte: die des Konflikts des ›Eignen‹ und des ›Fremden‹ für die Entwicklung der Persönlichkeit.« (ebd.) »Gegen Freud« meint hier, dass Gross eindeutig Partei für das Eigene und den Eigenwillen im Gegensatz zu den Forderungen der Gesellschaft nahm und Hausmann durchaus die Tendenzen der Freudschen Psychoanalyse zur Anpassung an eine Realität wahrnahm, die nur die gegebene Gesellschaftsordnung meinen konnte. In den Kriegs-, Revolutions- und Bürgerkriegszeiten war vom Berliner Psychoanalytischen Institut, das durch seine Beiträge zur Behandlung von sogenannten Kriegsneurotikern erstmalig Anerkennung von den staatlichen Autoritäten erhalten hatte, nichts Kritisches zu hören oder zu lesen gewesen. Laut Reichmayr waren die Analytiker in der Kriegszeit in der Mehrzahl, »keine Hurrabrüller, sondern Jasager, nicht begeistert, aber pflichterfüllt, nicht distanziert, sondern identifiziert« (Reichmayr 1994, 61).
Hausmann wehrte sich auch gegen die Pathologisierungstendenz der Freudschen Psychoanalytiker und nannte sie die »leibhaftigen Verdränger der Einzigartigkeit« (in Schuhmann ebd., 248). In einer seiner Satiren ließ er einen Freudianischen Psychoanalytiker sagen, er könne »jeden Revolutionär, falls er nur lange genug in meiner Behandlung bleibt, als Querulant entlarven, mag er auch noch so gesund sein« (Hausmann 1982a, 88). Es störte ihn, dass die »tapferen Schildbürger der Psychobanalyse … sanft und überlegen lächelnd« (ebd., 70) erklärten, Dada sei infantil, »Dada sei psychobanal genug, um von ihnen erklärt und aufgelöst zu werden« (ebd.). Das mag auch auf reale Ereignisse in der Wohnung von Arthur Segal zurückgehen, bei denen Mynona und der Psychoanalytiker Ernst Simmel, dem Mynona das Pseudonym »Lemmis« gab, entsprechend in Streit gerieten. Mynona berichtete, dass der »bekannte Psychoanalytiker Doktor Lemmis (vom Volksmunde Psychoanalügner genannt)« (Mynona 1989, 175) zu seinen Witzeleien »in einem entschiedenen Antagonismus stand« (ebd.). Wahrscheinlich ging es um Mynonas Satiren in dem Bändchen »Das Eisenbahnglück oder Der Anti-Freud«. Mynona schrieb: »Wie man weiß, gehört Lemmis zur Freudschen Schule und ist sogar noch etwas päpstlicher als der Wiener Papst: Er leitet jede geringste Regung des Leibes und der Seele aus der Geschlechtlichkeit ab.« (ebd.) Der Freudianer Lemmis schien ehrlich empört über Mynonas Freud-Satiren und »seine Rache bestand darin, dass er seinerseits Salomos Buch psychoanalysierte und es aus Impotenz ableitete« (ebd.).
Mit der Freudschen Sichtweise, dass unterdrückte sexuelle Motive zentral sind, war Raoul Hausmann einverstanden (vgl. Hausmann 1982a, 14), aber er wehrte sich gegen das Infantilisieren jeglicher rebellischen Regung: »Dada ist nicht das unerfahrene Kind, das gegen die Bedrückung der Familie oder des Vaters protestiert, wenn es innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft diese Gesellschaft ablehnt.« (ebd., 170) Er bestand darauf, dass der Dadaismus eine erwachsene, »eine taktische Einstellung« (ebd., 171) und eine »praktische Selbstentgiftung« (ebd.) sei. Hausmann, genau wie Georg Grosz und John Heartfield, gehörte zum Kreis um die Zeitschrift »Freie Straße«, der erkannt hatte, »dass alle geistige Gestaltung eine Art Selbsterziehung des Menschen darstellt, in der die Routine und die Konventionen unerbittlich ausgeschaltet werden mussten« (ebd.).
Der »Dadasoph« Hausmann, als Verbindungsglied zwischen Otto Gross und Mynona, ging in dieser Periode ganz im Sinne der Theorie Gross’ vom Konflikt zwischen Isolierung und Anpassung aus. Dieser Konflikt liegt in uns und ist gebunden an die »Urform der Gemeinschaft« (Hausmann 1982a, 27), an die Familie, in der der patriarchalische Vater herrscht. Dem Ich stellt sich die Aufgabe der »Eroberung der eigenen Gesetzmäßigkeit« (ebd., 28) und des eigenen Erlebens, wozu es die »Technik des Wissens um sich Selbst« (ebd.) braucht, die die »Revolution gegen die eigenen Konventionen« (ebd.) beinhaltet. Es geht um nicht weniger als die »Umgestaltung der Welt durch den Menschen der Gemeinschaft, der die Aufhebung der fremden Macht in innerste eigene Autorität […] fordert« (ebd., 32).
Als Polarist ging Hausmann davon aus, dass das Ich des »Einzeln-Einzigen« (ebd., 44) notwendig an sein »Wider-Ich« (ebd.), an den anderen, gebunden ist. So ist »Kompromissbildung« zwischen dem Willen des Ich und dem fremden Willen notwendig. Im Rahmen der damaligen politischen Diskussion verstand er die Gesellschaft, die Kommune, als diese Kompromissbildung, an der das Ich seinen »schöpferischen Trieb« (ebd., 29) betätigt. Es ging ihm dabei um den »Balancierpunkt von Freiheit und Gesetz« (ebd., 45), der aber nur gefunden werden kann (und hier denke ich wieder an Perls), wenn das Individuum den »Kampf um das eigene Erleben« (ebd., 44) aufnimmt, den Schritt »der Aufhebung der fremden Macht in innerste eigene Autorität« (ebd., 32) unternimmt und die »Freimachung des Erlebens aller fordert« (ebd.). Mit diesen Theorien hat Hausmann das Programm der kulturrevolutionären Psychoanalyse von Otto Gross im Mynonakreis verbreitet.
3. Schluss
Friedlaenders/Mynonas Polaritätsphilosophie hat Perls und Teilen der Berliner Kunstavantgarde positive Möglichkeiten der Bewältigung ihrer ›postmodernen‹ Identitätsproblematik8 geboten. Mit seiner Philosophie konstruierte Friedlaender die Möglichkeit, mit einer Art »Patchworkpersönlichkeit« (Keupp) zu leben, wie moderne Identitätsforscher das heute vielleicht nennen würden. Er entwickelte in Bezug auf sich selbst eine
»sich traditionellen Mustern verweigernde Lebenshaltung, die es ihm erlaubte, ernster Philosoph und Groteskenschreiber, Familienvater und Bohémien, Lyriker und Didaktiker, Moralist und Narr zu sein, ohne ein schizoides Bild von sich zu haben. Vielmehr entwarf er Maximen, die von ihm verlangten, möglichst Extreme zu leben, um sich der eigenen Einheit, Identität und Macht zu vergewissern.« (Exner 1996, 236)
Zum historischen Hintergrund des Gestaltansatzes gehört die Erfahrung, die die deutschen Juden in der »prima linea« der Großstadtavantgarde mit ihrer Mehrfachidentität und ihrer chronischen Nicht-Dazugehörigkeit machten: die Erfahrung, dass sie letztlich nur bei sich selbst zu Hause waren. Identität und Heimat mussten sie aus sich selbst heraus schaffen, und sie taten dies zumeist in einem kleinen menschlichen Bezugsnetz, einer »einbettenden Kultur« (Keupp et al. 1999, 296), die Halt, Dialogmöglichkeiten und Anerkennung bot und aufgrund der Emigration zum Teil mehrfach neu konstruiert werden musste. Perls’ verehrter Lehrer Mynona hat in einem seiner Briefe aus dem Exil diese Erfahrung auf den Punkt gebracht:
»Wir brauchen … einen autonomen Individualismus mit sozialer Konsequenz. Eher wird es nicht gut.« (Friedlaender/Mynona 1986, 12)
Ludwig Frambach
Philosophie, Mystik, Psychotherapie
Die Bedeutung Salomo Friedlaenders für die Gestalttherapie
Warum beschäftige ich mich so intensiv mit Salomo Friedlaender und seiner Philosophie? Oder andersherum: Warum beschäftigen mich Friedlaender und seine Philosophie so intensiv? Was spricht mich da so an? Diese Fragen stelle ich mir immer wieder, vor allem im Kontext der Gestalttherapie. Denn dort finden viele Friedlaender überhaupt nicht interessant und für diese Psychotherapieform sogar so bedeutungslos, dass man ihn in Darstellungen der Gestalttherapie nicht mal erwähnen muss. Das gibt zu denken! Bin ich vielleicht wirklich auf dem Holzweg? Messe ich ihm eine geistige Bedeutung