Schon früh (M 1922) warnt Mynona scharfsichtig vor den aufkommenden »Hakenkreuzgrünschnäbeln« und deren antisemitischem Ungeist. In der Groteske »Fast Nacht« von 1934 (in M 1980, Bd. 1, 227–229) karikiert er dann in gallenbitterer Satire das »runenalte Zauberland Hintlerien«, in dem »zur Fastnacht das Progrommaterial auszugehen droht«, da der »Antise-Mitmensch« die Juden bereits zu stark dezimiert hat. Um dem entgegenzuwirken, inszenieren das »Verführerlein«, der »weniger hochbetagte als vielmehr tiefumnachtete Landespapa« und sein »Propaghandi« oder »Propagauner« eine projüdische Kampagne, die das nun philosemitisch manipulierte Volk dazu bringt, in »Juda du Recke!«-Rufe auszubrechen. Dass der Verfasser derartig entlarvender Texte sich nach der nazistischen Machtergreifung ins Exil retten musste, bedarf keiner weiteren Erklärung (Frambach 1996, 16).
Mir ist es ausgesprochen sympathisch, dass dieser Philosoph nicht nur ernsthaft philosophiert, sondern auch seinen Humor kreativ auslebt. Und das ist für ihn nicht nur eine Beschäftigung neben seiner Philosophie, sondern zutiefst mit ihr verbunden.
»Mynona war und ist ein wohltuendes Gegengewicht gegen den Verfasser der Schöpferischen Indifferenz, die Zerstreuung zu dieser Anspannung, das Alkali zu dieser Säure, das Sichgehenlassen einer in Friedlaender verborgenen Disziplin, die Liederlichkeit meines strengen Anstandes (ohne den ich wirklich ein Luder wäre).« (Brief v. 1918; GS 4, 17)
Er sieht sich gleichsam als Doppelexistenz: »Ich bin ernsthafter Philosoph und Humorist in Personal-Union.« (F 1982, 35) Die humorig grotesken Geschichten sind für ihn spielerische Umsetzungen seiner philosophischen Überzeugungen: »Groteske Verzerrung ist die Kraft- und Belastungsprobe der seelischen Fähigkeit, Umfänglichkeit und Elastizität; die Rechnungsprobe auf die Richtigkeit des metaphysischen Prinzips der schöpferischen Indifferenz polarer Observanz.«4 Der Humor ist ihm Gegenpol zu seinem konsequenten strengen Denken und macht ihn geistig flexibel. »Ohne Spielzeug bei mir kein Ernstzeug.« (Tagebuch 5, März 1934) Damit aus dem Ernst kein tödlicher Ernst wird, kein Fanatismus, keine intolerante Ideologie, darum ist der Humor wichtig. »Es ist der Test jeder guten Religion, ob man über sie Witze machen kann.« (Gilbert Chesterton) Auch, ob sie Witze machen kann, möchte ich ergänzen. Das gilt nicht nur für Religionen, sondern auch für Philosophien, Ideologien, Weltanschauungen aller Art. Auch für Psychotherapieansätze.
Auch Fritz Perls hatte durchaus eine humoristische Ader, die sich z. B. in den selbstironischen Karikaturen seiner Autobiografie ausdrückte.
Der Humor wird viel zu wenig ernst genommen. Und wie gesagt, darum ist es mir so sympathisch, dass Friedlaender den Humor in sein Philosophieren integriert. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass ich selbst eine Neigung zu satirischem Humor habe: »Psychologie des Gartenzwergs. Eine psycho-soziale Studie über eine kleine Existenzform von großer Bedeutung.« (Frambach 1998, verfasst 1983)
Die Doppelung Friedlaender/Mynona benennt den ganzen geistigen Menschen. Darum ist es richtig, dass Detlef Thiel konsequent das Kürzel F/M verwendet. Ich spreche meist von Friedlaender, da ich mich auch meist auf den Philosophen der Personalunion beziehe.
3. Die Mystik
Dieser Punkt ist mir bei Weitem der wichtigste. Und darum ist er auch bei Weitem umfangreicher als die ersten beiden Aspekte.
Schon vor meinem Studium der Theologie habe ich mich für Mystik interessiert. Für christliche Mystik und Kontemplation, die Praxis der Mystik, aber auch für Mystik in anderen Religionen, insbesondere den Zen-Buddhismus. Hugo Enomiya-Lassalle (1898–1990), der Pionier des Zen im christlichen Raum, war mein wichtigster Lehrer der meditativen Praxis, aber ich beschäftigte mich auch mit der Philosophie des Zen, z. B. der Kyoto-Schule von Nishida und seinen Nachfolgern. Auf die Gestalttherapie stieß ich dann gegen Ende der Siebziger-Jahre. Zuerst machte ich eine Ausbildung beim Nürnberger Arbeitskreis für Gestalttherapie, dem heutigen Symbolon-Institut, später am Fritz-Perls-Institut. An der Gestalttherapie hat mich der erfahrungsbezogene, experimentelle Charakter angezogen, speziell die Betonung der »Awareness«, der in der Leiblichkeit gegründeten Bewusstheit im Hier-und-Jetzt. Das waren Aspekte, die ich auch von christlicher Mystik und Zen her kannte. Aber insgesamt hatte mich meine geistige Suche eher intuitiv als reflektiert zu Mystik, Zen und Gestalttherapie geführt. Nun wollte ich tiefer und bewusster verstehen, was diese drei Bereiche verband, das prinzipiell Gemeinsame. Nach jahrelanger intensiver, wenn auch nicht sehr systematischer Auseinandersetzung in Praxis und Theorie erschloss sich mir im Sommer 1986 ein neues vertieftes Verständnis. Struktur und Dynamik des Prozesses, der diesen drei Bereichen gemeinsam ist, wenn auch auf verschiedene Inhalte bezogen, wurden mir bewusst in einer spontanen Einsichtserfahrung, die mich auch emotional tief bewegte. (Von wegen Denken im Sinne einer intensiven geistigen Suche hat nichts mit Gefühlen zu tun!) Ich habe das in meiner Dissertation ausgearbeitet, die 1994 leicht verändert unter dem Titel »Identität und Befreiung in Gestalttherapie, Zen und christlicher Spiritualität« erschienen ist. Entscheidend für dieses Prozessverständnis war für mich Friedlaenders Philosophie schöpferischer Indifferenz und polarer Differenzierung. Dadurch konnte ich nicht nur das von Perls unklar beschriebene »Fünf-Schichten-Modell« der Neurose als Phasen von Fixierung, Differenzierung, Diffusion, Vakuum und Integration stimmig interpretieren, sondern auch den existenziellen Prozess im Zen und der christlichen Mystik.
Friedlaender ist für mich ein philosophischer Mystiker. Darum ist seine Philosophie auch in religiöser Hinsicht relevant. Er ist kein religiöser Mystiker, in keiner Weise einer bestimmten Religion zuzuordnen, auch nicht der jüdischen. Er ist ein religiös unabhängiger Freigeist und sieht sich nur der philosophisch stimmigen Erkenntnis verbunden. In hinduistischen Kategorien würde man ihn dem Jnana-Yoga zuordnen, dem Weg zur Befreiung durch Wissen und Erkenntnis. Mystik ist nicht nur als ein religiöses Phänomen zu verstehen. Hilarion Petzold (1983) spricht im Rahmen seines umfassenden Ansatzes der sogenannten Integrativen Therapie von »Säkularer Mystik«. Mystik ist ein allgemeinmenschliches, kultur- und religionsübergreifendes Phänomen und nicht nur auf die Sphäre des Religiösen beschränkt.
Das Verhältnis des Absoluten zum Relativen, der Transzendenz zur Immanenz oder, theistisch-religiös ausgedrückt, von Gott zur Welt, das ist nach meinem Verstehen das zentrale Thema von Friedlaender, das er in seiner ureigenen Terminologie ausdrückt. Und damit ist er nah an mystisch-religiösen Einsichten, wie z. B. von Meister Eckhart (um 1260–1328), den er sehr schätzt: »Eckehardt entzückt mich, er ist der göttliche Freigeist fast schon im allerreinsten Sinne.« (F/K 1986, 35) Am Beispiel einer für Eckharts Gottesverständnis zentralen Aussage möchte ich verdeutlichen, wie relevant Friedlaender für den Bereich der Mystik ist. Eckhart schreibt: »Gott aber unterscheidet sich durch seine Ununterschiedenheit, seine Unendlichkeit, von allem Geschaffenen, Unterschiedenen, Endlichen …«5
Gott unterscheidet sich durch Ununterschiedenheit. Das trifft sich mit den grundlegenden Einsichten von Friedlaender.
»Das allerallgemeinste Merkmal aller möglichen Phänomene ist der Unterschied, die Differenz.« (GS 10, 98) Damit ein Phänomen existent und wahrnehmbar sein kann, muss es im Gegensatz zu etwas Anderem stehen, sich von etwas Anderem unterscheiden, different sein. Das grundlegendste Gestaltungsprinzip, das die Differenz der Phänomene strukturiert, ist die Polarität, der Urgegensatz, der Urunterschied. »Auch die allerkomplizierteste Relativität lässt sich in korrelative Paare auflösen.« (GS 10, 155)