Abb. 3: Der Mensch in verschiedenen Situationen
6. Die westliche und die östliche Weisheit
Der indische Adelige Siddhartha Gautama hatte sich, nachdem er Askese, Yoga und viele andere Techniken letztlich ohne den erhofften Erfolg ausprobiert hatte, so lange zur Meditation unter einen Baum gesetzt, bis er die Erkenntnis erlangte. So wurde er der Buddha. Aber diese Erfahrung und Erkenntnis ist nicht nur den großen Weisheitslehrern oder Meistern wie Ramana Maharshi oder Jiddu Krishnamurti oder den westlichen Berichterstattern wie Karl Graf Dürckheim, Willigis Jäger oder Hugo Makibi Enomiya-Lassalle – alle drei hatten aus Aufenthalten in Fernost ihre Erfahrungen mitgebracht – vorbehalten. Jeder kann die Erkenntnis gewinnen. Im 19. Jahrhundert wurde Buddhismus im Westen noch belächelt. Ernst Lothar Hoffmann, der später als buddhistischer Lehrer den Namen Lama Govinda annahm, beschreibt dies in seinem Buch »Der Weg der weißen Wolke« sehr eindrücklich. Heute erkennt man den großen Erfahrungsschatz des Buddhismus, der einer 2600-jährigen Überprüfung durch große Denker und ›Lebenspraktiker‹ standgehalten hat. Zunehmend wird die Ähnlichkeit der Erkenntnisse in westlichen wie östlichen Denkmodellen offenkundig, wie drei Therapeuten im »Achtsamkeitsbuch« beschreiben (Weiss, Harrer, Dietz 2010). Und gerade die Studien neuerer westlicher Wissenschaften wie Psychologie und vor allem Neurophysiologie machen deren Wahrheit auch für den Skeptiker nachvollziehbar. Durch aktive Begegnung hat auch eine Integration in der anderen Richtung stattgefunden. In Asien haben die großen Länder China und insbesondere Indien Elemente der viel stärker zielorientierten und aktiven westlichen Herangehensweise genutzt, um Fortschritte für ihre wirtschaftliche Entwicklung und den Aufbau von Wohlstand für ihre Menschen zu erzielen. Die Welten begegnen sich mit großer Kraft. Das Modell der Aufmerksamkeitsebenen ist insofern inspiriert durch meine eigenen Erfahrungen in der westlichen, wissenschaftlich geprägten Praxis, aber auch durch das Training in der fernöstlichen Betrachtungsweise und in 30 Jahren Meditation und Übung.
7. Die Beziehung der Bewusstseinsebenen
Die Ebenen des Bewusstseins sind miteinander verbunden, können aber auch eindeutige Fokussierungen zeigen. Wenn man körperliche Schmerzen hat, wird diese Ebene sofort dominant und es fällt uns schwer, andere Gedanken zu fassen. Auch eine aus der Familie stammende Vorschrift oder Erwartungshaltung (transgenerationale Ebene) kann so stark sein, dass andere emotionale Gestimmtheiten des Menschen zurücktreten müssen. Jede Ebene hat ihren Wert im menschlichen Leben. Es liegt weitgehend außerhalb und jenseits der Verantwortung des Einzelnen, mit welchen Ebenen er in seinem Leben in Kontakt kommt und welche Form dieser Kontakt hat. Hier spielen seine Lebensumstände eine große Rolle. Und dies gilt sowohl biografisch bezüglich seiner Herkunft, Schicht und Bildungsmöglichkeiten, aber auch bezüglich des aktuellen Kontextes, der einen Sog für die Aufmerksamkeit ausübt. Wenn ich mich mit hundert Prozent meiner Energie auf ein berufliches Projekt konzentriere, werde ich von dieser Logik voll und ganz bestimmt. Wohl gemerkt, es ist nicht falsch, im Beruf positiv wirksam zu sein. Aber durch einseitige Fixierung auf den Beruf findet man nicht zu integrierter Achtsamkeit und ganzheitlicher Erkenntnis. Dies gilt genauso für andere einseitige Orientierungen. Gerade Weisheitslehren verordnen gerne Askese. Der Zölibat der katholischen Priester beispielsweise fußt auf der Idee, dass dann die Konzentration auf den spirituellen Auftrag leichter fällt. Ganz im Gegensatz dazu wird von einem jüdischen Rabbi erwartet, dass er Erfahrung in Familie und Kindererziehung hat, da er nur dann für diesbezügliche Fragen ganzheitliche Achtsamkeit entwickeln kann.
Gelingt uns wirkliche, ganzheitliche Erkenntnis, so wird sie Einfluss auf die gesamten Ebenen haben und etwa den Umgang mit dem eigenen Körper positiv beeinflussen. Man wird sich vielleicht gesünder ernähren, sich angemessen bewegen und auf seinen Körper hören. Aber auch die transgenerationale Ebene muss mitspielen. Denn solange beispielsweise ein neues Verhalten einen Verstoß gegen die Regeln der »Ahnen« darstellt, besteht ein Hindernis. Wenn etwa in früheren Generationen gehungert wurde, wird es einem Menschen – obwohl es für ihn gesünder wäre – vielleicht ungeheuer schwer fallen, Essen einmal stehen zu lassen. Ein anderes Verhalten wird zunächst kaum eine Chance im Verhaltensspektrum eines Menschen haben. Eine große innere Kraft wirkt dem entgegen. Erst wenn die Aufmerksamkeit auf die transgenerationale Ebene gelenkt wird und auf dieser Ebene eine Verständigung erreicht wird, kann es auch auf den aktuell konkreten Ebenen wie Körper/Verhalten und Denken vorangehen.
Grundsätzlich gilt: Persönlichkeitsentwicklung funktioniert nur durch die Kombination unterschiedlicher Ebenen und auch durch einen deutlichen Perspektiv-Wechsel auf eine höhere Ebene.
8. Vom Umgang mit anderen
Der auf Beziehungen spezialisierte Religionsphilosoph Martin Buber hat einmal darauf hingewiesen, dass es wenig echte Begegnung zwischen Menschen gibt. Menschen verbringen zwar oft sehr viel Zeit miteinander. Sie interessieren sich aber nicht wirklich für den anderen. Sie wollen sich oft nur mit dem anderen vergleichen (Buber 1983). Das fühlt sich vielleicht manchmal gut an, wenn man sieht, dass es einem nicht schlechter geht als dem anderen. Aber dieses Vergleichen akzeptiert weder die Einzigartigkeit der Menschen noch lässt sie eine Begegnung auf der gemeinsamen Tiefenebene zu.
Der berühmte Dirigent des Bostoner Symphonieorchesters Benjamin Zander hat all seinen Schülern die Note Eins gegeben. Das wäre ein gutes Vorbild für den Umgang mit anderen. Denn wenn man alle Menschen vorbehaltlos annimmt und ihnen die Note Eins gibt, kann man die Schönheit des anderen in seinem Tun erkennen. Man kann zusehen, wie sie wachsen und bekommt in der Regel Dank zurück. Aber Zander hat seinen Studenten dazu eine kleine Aufgabe gestellt: Was müsstest du im Semester tun, damit die Eins gerechtfertigt ist? Die Studenten haben dann ihren eigenen Weg zur Eins erarbeitet und – man höre und staune – auch eingehalten.
Anteilnahme und Interesse an der Lebensgestaltung anderer wäre eine lohnende Einstellung, insbesondere für Führungskräfte. Diese Eigenschaften zeigen aber nur ganz wenige, weil sie sich eigentlich nicht für Menschen und deren Lebendigkeit interessieren, sondern nur für Abstraktes wie Zahlen und Fakten.
Aber Vorsicht: Es geht nicht um Identifikation. Mitgefühl bedeutet nicht, sich im Gefühl des anderen zu verlieren. Bleib bei dir, während du mit dem anderen bist, so heißt die Devise. Die eigene Achtsamkeit sollte weiterhin im Fokus stehen. Das heißt, es gilt immer wieder, zu den eigenen Bedürfnissen und eigenen Gefühlen zurückzukommen. Die geben den Standort an. Was fühle ich gerade? Welches Bedürfnis zeigt sich darin? Dann kehrt man zu sich selbst zurück, nimmt sich selbst achtsam wahr. Man verschwimmt nicht mit dem anderen, sondern kann ihm gegenüber einfühlsamer, gelassener und besonnener reagieren.
Gerade im Arbeitsleben werden integrierte Achtsamkeit und innere Ruhe immer wieder auf eine harte Probe gestellt. Ich habe in dem Buch »Systemische Organisationsanalyse« (Mohr 2006) ausführlich beschrieben, was in Organisationen alles denkbar ist. Sie können für die beteiligten Menschen sorgen, ihre Kreativität fördern und ihnen befriedigende Arbeitsplätze bieten. Sie können aber auch Menschen ausbeuten, wenn sie als reine Produktionsfaktoren betrachtet werden. In Organisationen passiert eine Menge, was man als Zeitvertreib und Beschäftigungstherapie bezeichnen könnte. Organisationen sind wie Gesellschaftsspiele. Es gibt Regeln und Figuren, die bestimmte Züge vollziehen dürfen. Andere hingegen dürfen nicht dieselben Spielzüge nehmen. Die Regeln können sich abrupt und mehrmals ändern – auch diese Vorstellung ist durchaus noch real. Es erinnert an das große Lebensspiel Leela, wie es im Hinduismus für das gesamte Zusammenspiel der Menschen beschrieben ist. Menschen mit unterschiedlichsten Persönlichkeiten werden in einen Kontext gestellt