Nonduale Aufmerksamkeit
Erfahren der Verbindung von Allem, Erfahren der Einheit von Allem, Erfahren der »Leerheit« aller Formen, …
Die oberste Treppenstufe ist die nonduale Aufmerksamkeit. Nondual heißt »nicht zwei« und ist die Aufmerksamkeitsstufe, in der man die Welt stimmig, integriert, nicht mehr in irgendwelche Kategorien getrennt erlebt. Sie zeigt sich den Menschen auf sehr unterschiedlichen Wegen, manchmal in der Meditation, aber auch in der Tiefenentspannung, nach intensiver körperlicher Betätigung, durch Musik, durch die Wirkung einer Landschaft oder eines Gebäudes, aber auch in mancher Alltagsversunkenheit in einem Tagtraum oder im Gebet. Normalerweise führen die Menschen die nonduale Aufmerksamkeit auf das Äußere zurück. Es ist aber nicht das Äußere, sondern das, was in dem Moment innen zur Resonanz kommt. Der Begriff »nondual« vermeidet das Wort »spirituell«, das explizit oder implizit mit bestimmten Religionsvorstellungen assoziiert wird. Denn es geht um eine erfahrbare Ebene und nicht um die Glaubens- (= Denk-) Konstrukte von Religionen. Sicher bemühen sich die mystischen Richtungen aller Religionen, genau diese Ebene zu trainieren. Der Weisheitslehrer Willigis Jäger sieht im Nondualen den übergreifenden, essenziellen Bezug zum großen Ganzen, den alle Weisheitslehren und Religionen auch enthalten. Er unterscheidet dies aber deutlich von den beiden anderen Ebenen der Religion, der um Emotion bemühten Volksreligion sowie der im Denken verwurzelten Theologie und Theodizee (Jäger 2005). So zeigt die nonduale Erfahrungsebene das, worum sich alle Weisheitslehren bemüht haben: diejenigen, die auf einem Gott aufbauen, die, die ohne ihn auskommen und sogar die, für die er tot ist (z. B. Nietzsche), was aber hieße, dass er schon mal gelebt haben müsste. Pragmatisch kann man im erfahrbaren Teil des Nondualen auch die Verbindung zum Strom des Lebens insgesamt sehen, wie ich es in »Coaching und Selbstcoaching« (Mohr 2008) beschrieben habe. Ohne die Einbeziehung der nondualen Aufmerksamkeit gibt es keine Achtsamkeit und keine innere Ruhe. Diese Ebene ist aber zugegebenermaßen nicht so leicht zu beschreiben, weil sie jenseits der Formenwahrnehmung liegt und eher durch längere Übung – etwa in der Meditation – zum Vorschein kommt. Jede Beschreibung stellt bereits eine Form dar, lässt ein inneres Bild entstehen. Sie zeigt sich auch im Alltagsleben, wenn auch nicht laut, sondern eher als zarte Regung und wird dadurch oft nicht bemerkt.
2. Achtsamkeit – Was sie ist und was sie nicht ist
Achtsamkeit ist keine bloße Verlängerung oder Vertiefung der Sinneswahrnehmung, wie sie in zahlreichen Übungen trainiert werden kann. Sie umfasst mehr. »Mindfulness«, wie Achtsamkeit im Englischen heißt, bedeutet, mit dem ganzen Geist (»Mind«) etwas zu erfassen. Dies betrifft das Wesen einer Person, ihre Eigenart, ihren Genius, die oft überhaupt nicht auf der Hand liegen. Insofern ist Achtsam-Werden eine sehr individuelle und für jeden Einzelnen spezifische Aufgabe.
Achtsamkeit
Für Achtsamkeit findet man verschiedene Definitionen. Der Erfinder des MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction), John Kabat Zinn, nennt sie
»offenes, nichturteilendes Gewahrsein von Augenblick zu Augenblick« (Kabat-Zinn 2006, S.35, zit. nach Weiss et al. 2010)
Die »rechte Achtsamkeit« im buddhistischen »edlen achtfachen Pfad« lässt sich nach Auffassung von Weiss et al. (2010) sehen als
»das aufmerksame und unvoreingenommene Beobachten aller Phänomene, um sie wahrzunehmen und zu erfahren, wie sie in Wirklichkeit sind, ohne sie emotional oder intellektuell zu verzerren« (Sole-Leris 1994, S. 26, zit. nach Weis et al. 2010)
Weiss et al. unterscheiden einige Komponenten von Achtsamkeit:
1. Verbunden mit einem bestimmten Modus des Seins
– | Rezeptives Beobachten und Gewahrsein. Innere und äußere Reize werden bewusst bemerkt und wahrgenommen |
– | Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment |
– | Automatische Reaktionen auf innere und äußere Erfahrungen werden unterlassen, im Gegensatz zum »Autopilotenmodus« (Kabat-Zinn 2006) |
2. Eine bestimmte Haltung Erfahrungen gegenüber
– | Akzeptanz: Erfahrungen so akzeptieren, wie sie sind |
– | Nicht-Bewertung: kein gut oder schlecht |
– | Kein konzeptionelles Denken: keine Einordnung der aktuellen Erfahrungen in bestehende Konzepte, auch nicht in vergangene Erfahrungen |
– | Anfängergeist: Dinge betrachten, als würden man sie zum ersten Mal sehen |
– | Zulassen und Erlauben als Gegensatz zu Vermeidung und Unterdrückung von Erfahrungen |
– | Kein Veränderungswunsch |
– | Intentionalität: vorhandene Absicht, achtsam zu sein |
3. Techniken
– | Konzentration und Fokussierung zu innerer Ruhe als Voraussetzung für Achtsamkeit |
– | Etikettieren – Benennen der Erfahrung in einfachen Worte, nicht Konzeptionen |
4. Ziele und Wirkungen
– | Einsicht und Klarheit – Wahrnehmung der Welt |
– | Ruhe, innerer Frieden und Gleichmut |
– | Entwicklung von Freiheit; Befreiung von Leid im umfassenden Sinne |
– | Entwicklung von liebender Güte, Mitgefühl und Mitfreude |
– | Selbstregulation |
– | Präsenz |
– | Ermöglichung neuer Erfahrungen. |
(Weiss et al. 2010, S. 20 ff.)
Manche Menschen erreichen plötzlich Achtsamkeit, ohne viel geübt zu haben. Bei anderen ist es mühsamer, wie es die Zen-Geschichte des großen Meisters Akoshi verdeutlicht.
Er hatte als Zen-Schüler 15 Jahre lang jedes Koan (Rätsel zur Schulung der Geisteskraft) gelöst und während dieser ganzen Zeit asketisch gelebt. Er galt als Vorbild aller Übenden. Allerdings spürte er, dass er die Erleuchtung nicht erreicht hatte. Dies musste auch sein Meister konstatieren. So beschlossen sie, dass er das Kloster verlassen sollte. Er fühlte sich, als wäre er gescheitert. Als er den Klosterbezirk, der direkt neben dem Bordellviertel lag, verließ, dachte er, jetzt komme es auch nicht mehr drauf an und ging zu einer der schönen Frauen, die sich dort anboten. Und als er mit der Frau zusammen war, fühlte er die Erleuchtung. Er wurde ein großer Meister.
Achtsamkeit kennt also viele Wege und sie ist individuell. Achtsamkeit wird sehr unterschiedlich erlebt. Für den einen ist sie tatsächlich Beruhigung, Entspannung, innere Ruhe, und den anderen kratzt sie auf, er bekommt endlich die Energie, seiner Berufung zu folgen. Achtsamkeit ist kein Wellnessprogramm, das auf die bürgerliche Sicherheit aufgesetzt wird. Im Beruf sind wir erfolgreich, die Kinder sind aus dem Haus, das Haus ist abbezahlt, jetzt besorgen wir uns noch Achtsamkeit. Achtsamkeit ist keine Fortsetzung eines unendlichen Entspannungsprogramms. Es ist nicht das permanente »Om« auf den Lippen. Denn der skurrile Auftritt, den manche mit Achtsamkeit verwechseln, trennt von anderen Menschen und lässt so ein wesentliches Moment von Achtsamkeit, die Beziehung zu anderen Menschen, außer Acht.
Achtsamkeit besteht nicht in einem Rückzug aus der Welt. Der Mensch ist ein grundlegend soziales Wesen. Achtsamkeit ist von Mitgefühl oder dem christlichen Begriff »Nächstenliebe« nicht zu trennen. Zur Achtsamkeit gehört die Erkenntnis, dass ausgeprägter Individualismus eine sich zwar verbreitende, aber merkwürdige und unrealistische Sichtweise ist. Ohne andere Menschen, ohne die Beiträge früherer Generationen und auch ohne unsere Umwelt wären wir nichts. Deshalb bedeutet Achtsamkeit auch achtsames Eingreifen in die Welt, jedoch aus einer ›geläuterten‹ Perspektive heraus, die weder gedankenlos noch blind oder etwa hysterisch durch die emotionale Ebene getrieben agiert.
Ab dem mittleren Erwachsenenalter interessieren sich viele Menschen für Spiritualität oder Religion. Vielleicht ist der näher rückende Tod für diese Hinwendung verantwortlich. Das ist in allen Kulturen so. In der traditionell sehr spirituell geprägten Kultur Indiens widmen sich gläubige Hindus nach einem erfolgreichen Berufsleben im dritten Lebensdrittel der Spiritualität. Achtsamkeit ist aber auch hier die intensive Auseinandersetzung mit den kindlich geprägten religiösen Vorstellungen. Da ist vieles auszusortieren, was noch ungeprüft im Unbewussten als wirksame Vorstellung schlummert.
Nach