Der Wald ist ein natürlicher Physiotherapeut. Seit ich meine Liegestütze auf Felsen mache, fühlen sie sich auf herkömmlichen Unterlagen nicht mehr »richtig« an. Einmal hatte ich mir vorgenommen, zum Biophilia-Training in den Wald zu laufen, als das Wetter unerwartet schlecht wurde. Ich war etwas krank und zunächst war ich unsicher, ob ich mich bei so unwirtlichem Wetter mit Halsschmerzen und Schnupfen auf den Sport im Wald einlassen sollte. Ich tat es.
Und siehe da: Ganz anders als befürchtet, wurde meine Verkühlung im Laufe des Tages nicht stärker, sondern es ging mir nach ein paar Stunden im Wald immer besser. Ich war beeindruckt von der Wirkung, welche die Waldluft auf mich ausübte. Nach getaner Arbeit fühlte ich mich deutlich besser als davor. Wie Sie später in diesem Buch noch ausführlich erfahren werden, enthält die Waldluft bioaktive Pflanzenstoffe, die nachweislich unser Immunsystem stärken und uns sogar vor Krebs schützen. Die Bäume im Wald unterstützen zahlreiche unserer Körperfunktionen und halten uns gesund. Der Wald ist aber nicht nur Arzt und Physiotherapeut, er ist auch Psychotherapeut. Wissenschaftler konnten nachweisen, dass Sport in der Natur sogar gegen psychische Störungen wirkt und unser Sozialleben verbessert. An die gesundheitsfördernde Wirkung der Natur kommt kein Fitness-Studio heran.
Wir werden in diesem Buch auch zeigen, dass Eis und Schnee kein Grund sind, auf das Biophilia-Training in der Natur zu verzichten. Sport im Wald ist zu jeder Jahreszeit auf komfortable Weise möglich und steigert von Jänner bis Dezember unsere sportlichen Leistungen sowie unsere Gesundheitskräfte.
Mariya Beer war bei der Arbeit an diesem Buch überwiegend für die Konzeption der Übungen verantwortlich und brachte sich mit ihrem fundierten Wissen über das Training in der Natur ein. Meine Beiträge als Biologe finden sich vor allem in den Abschnitten wieder, in denen es um die körperlichen und psychologischen Wirkungen der Pflanzen und Landschaften auf den menschlichen Organismus geht.
Das Biophilia-Training ist der Weg zur Traumfigur und zur sportlichen Höchstleistung mithilfe des Waldes. Ich wünsche Ihnen viel Freude mit diesem Buch.
Clemens G. Arvay
Krems an der Donau, 31. Jänner 2016, unmittelbar nach einem winterlichen Waldlauf
Der Biophilia-Effekt
Sport im Wald ist Sport »zuhause«
Wenn Ihnen der Aufenthalt in der Natur ein gutes Gefühl verschafft, dann ist es Ihre Biophilia, die Sie spüren. Das ist die Verbindung, das heilsame Band, zwischen Mensch und Natur, das sich im Laufe der Evolution in uns entwickelt hat. Das wusste schon Erich Fromm, der große deutsch-amerikanische Psychoanalytiker (1900 bis 1980).
Er sprach von den »biophilen Kräften« tief in der menschlichen Psyche, die sich nach den Lebens- und Wachstumsprozessen der Natur sehnen.4 Fromm ging davon aus, dass uns die Biophilia gesund erhält und seelisch ausgleicht, sofern wir ihr durch Kontakt zur Natur Raum geben. In den frühen Achtzigerjahren, nach Erich Fromms Tod, übernahm der in Fachkreisen weltweit renommierte Professor Edward Wilson an der Harvard University den Begriff in die Evolutionsbiologie und setzte die »Biophilia-Hypothese« in die Welt. Diese besagt, dass die Liebe zur Natur genetisch in uns angelegt ist. Als die Spitzensportlerin Tina Vindum aus dem Fenster des Fitness-Studios blickte und ihrem Drang nach draußen nicht mehr widerstehen konnte, war es die Biophilia, von der sie angetrieben wurde. In Vindums öffentlichem Lebenslauf erfahren wir, dass sie in den »atemberaubenden Bergen der Sierra Nevada« aufwuchs. »Es ist kein Wunder«, heißt es weiter, »dass sie eine solche Leidenschaft für Outdoor-Sport entwickelte.« 5
Aus zahlreichen wissenschaftlichen Studien wissen wir, dass die Biophilia aber in fast allen Menschen wirkt und nicht nur in jenen, die im Grünen aufgewachsen sind oder, so wie Tina Vindum, sogar in einem Naturschutzgebiet. Nur sehr wenige von uns behaupten über sich selbst, keine Begeisterung für die Natur zu empfinden. Das Phänomen »Biophobia«, also das Gegenteil der Biophilia und somit die Ablehnung von Naturkontakt, taucht in umweltpsychologischen Umfragen nur selten auf. Obwohl unser gesellschaftliches Verhalten alles andere als naturfreundlich ist, bezeichnet sich fast niemand als »Naturhasser«. Ein prominenter Biophobiker ist der US-amerikanische Schauspieler, Filmemacher und Komödiant Woody Allen. Nach eigenen Angaben meidet er jeglichen körperlichen und sozialen Kontakt zu Tieren und Pflanzen und würde auch nie in einem natürlichen See schwimmen, »weil dort lebende Dinge drin sind«. Woody Allen bezeichnete New York City als das für ihn genau richtige Maß an Natur. Mehr Wildnis wolle er nicht.6
Auch wenn immer wieder über Menschen berichtet wird, für die von den Pflanzen und Tieren, den Flüssen und Seen, den Bergen und Wäldern nichts Reizvolles ausgehen soll, sind wir (die Autoren dieses Buches) in der Realität noch nie einem Menschen begegnet, der so wie Woody Allen über sich gesagt hätte, die Natur ließe ihn völlig kalt und er meide jeden Kontakt zu ihr. Unsere Erfahrungen aus Gesprächen mit Menschen lehrten uns vielmehr, dass die Natur für fast jeden von uns mit positiven Gefühlen verbunden ist, ganz egal, ob wir gebildet oder weniger gebildet sind, alt oder jung, reich oder arm. Uns ist noch kein bekennender Biophobiker begegnet – schon gar nicht unter Sportlern.
Professor Wilsons »Biophilia-Hypothese« dürfte also auf die meisten von uns zutreffen. Das Band zwischen Mensch und Natur ist uns in die Wiege gelegt. Ein Blick auf unsere Evolutionsgeschichte macht deutlich, dass es eher verwunderlich wäre, wenn das nicht so wäre. Zehntausende, ja sogar hunderttausende Jahre lang lebten unserer Vorfahren in Wäldern und in der afrikanischen Savanne. In der Savanne vollzog sich sogar der Übergang vom Homo erectus zum Homo sapiens. Die Natur, aus der wir entstammen, hat unmittelbar mit unserer Identität als Menschen zu tun. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass wir modernen Menschen noch immer eine unbewusste Vorliebe für Savannenbäume haben. Diese Baumformen gefallen uns am besten, wenn wir Bäume spontan nach ihrem Aussehen und nach ihrer Wirkung auf uns beurteilen. Unsere intuitive Verbindung mit den Savannenbäumen haben Wissenschaftler an Menschen überall auf der Erde festgestellt, ganz egal, ob diese in einer Großstadt oder am Land aufgewachsen waren. Die Umwelt unserer Vorfahren ist etwas Vertrautes für den Homo sapiens. Unsere Biophilia ist ein Ergebnis der Evolution. Für die Qualitäten der Natur als Physiotherapeutin ist vor allem unsere körperliche Verbindung zum natürlichen Erdboden ausschlaggebend.
Über Äonen hinweg haben sich die Anatomie und die Funktionsweise des menschlichen Körpers an seine natürliche Umwelt angepasst, so wie das auch bei den Tieren, Pflanzen, Pilzen und Mikroorganismen der Fall war und ist. So wie jede andere Spezies passen wir einfach am Besten zu der Umwelt, auf die wir uns im Laufe der Menschheitsentwicklung spezialisiert haben. Es liegt auf der Hand, dass es sich dabei nicht um Asphalt und Beton handelt. Viele Menschen bekommen beim Joggen Knieprobleme sowie Probleme an den Hüften und der Wirbelsäule, wenn Sie auf hartem Untergrund laufen. Beim Lauf durch einen Stadtpark haben wir vielleicht das Gefühl, in der Natur zu sein, weil wir von grünen Bäumen umgeben sind, doch im Park bewegen wir uns, wie auf der Straße, auf harten Asphaltflächen. Die Erschütterungen und Stöße führen zu Abnützungen an den Gelenken und der Wirbelsäule. Sie können dadurch sogar chronische Entzündungen auslösen. Unser Bewegungsapparat ist für die moderne Lebenswelt einfach nicht gemacht, da nutzen auch »Stoßdämpfer« an den Schuhen nichts.
Unser Körper passt in die Landschaft wie ein Puzzlestein in den anderen, weil er durch sie geformt und gestaltet wurde.
Joggen auf natürlichem Untergrund ist hingegen eine gesunde Form des Sports, wie jeder Sportler aus Erfahrung nachvollziehen kann. Der weiche Waldboden und die grünen Wiesen geben unserem Gewicht nach und versetzen uns keine schädlichen »Schläge« von unten.