Die Verdienste sozialdemokratischer Parteien für den Aufbau und die Stabilisierung der Demokratie in Europa sind unbestritten. Aber unbestritten sind auch die Verdienste Athens um die Entwicklung des Demokratiemodells der »Polis«. Unbestritten sind auch die Verdienste Roms um den Aufbau eines umfassenden Rechtssystems, das in vielem als Laboratorium des modernen Rechtsstaates gelten kann. Das Athen des Perikles ist allerdings Vergangenheit wie die Römische Republik. Historische Verdienste allein sichern keine Zukunft. Sie können auch als Zeichen dafür gelten, dass es Zeit ist, eine Periode für beendet zu erklären. Ist die Sozialdemokratie – trotz oder wegen ihrer unbestreitbaren Leistungen für Gesellschaft und Politik und Kultur – reif für das Museum? Was hat die Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts noch an Fortschrittsperspektive zu bieten, wenn viele der sozialdemokratischen Erfolge selbstverständlich geworden sind – und vielleicht gerade deshalb der Zeitgeist nicht mehr von John Maynard Keynes’ »Weg der Mitte«, sondern von Friedrich Hayeks demokratischer, aber militant vorgetragener Absage an diesen Weg der Mitte geprägt ist? Hat die Sozialdemokratie sich selbst überflüssig gemacht – gerade durch ihre Erfolgsbilanz, die sie für die Jahrzehnte nach 1945 aufzuweisen hat?
2. Warum wir von der Sozialdemokratie enttäuscht sein müssen
Ralf Dahrendorfs Diagnose von 1983 hat viel für sich, als er vom »Ende des sozialdemokratischen Zeitalters« schrieb. Die Sozialdemokratie hat in Europa – jedenfalls im demokratischen Europa – die gesellschaftliche Richtung vorgegeben. Sie hat entscheidend dazu beigetragen, dass die pluralistische, die liberale Demokratie sich in jeder nur denkbaren Hinsicht der »Volksdemokratie« des eben nicht demokratischen Sozialismus überlegen zeigte. Die Menschen – alte und junge, ArbeiterInnen und Studierende, Frauen und Männer: Wenn sie die dafür erforderliche Freiheit hatten, zogen sie in den Jahrzehnten nach 1945 von Ost nach West – und nicht von West nach Ost. Der »Eiserne Vorhang« war nicht dazu da, »Agenten des Imperialismus« abzuwehren. Er sollte die Massenflucht in die westlichen Demokratien verhindern. Dieses eindeutige Urteil der Geschichte war auch ein Verdienst der Sozialdemokratie.
Aber deren Ära ging – so Dahrendorf – bereits dem Ende zu, als die UdSSR implodierte. Der Verlust an sozialdemokratischer Hegemonie war nicht das Produkt der Erfolglosigkeit sozialdemokratischer Parteien. Die Sozialdemokratie verlor an politischer Deutungshoheit, weil viele ihrer substantiellen Erfolge selbstverständlich geworden waren: eine fast flächendeckende soziale Sicherheit auch in Form einer umfassenden Gesundheits- und Altersvorsorge, ein zumindest bescheidener Wohlstand für fast alle und – ganz wesentlich – die Garantie der individuellen Freiheiten, die noch eine oder auch zwei, drei Generationen zuvor mühsam zu erkämpfen und zu verteidigen waren. Den meisten Menschen in den (westlichen) Demokratien Europas war es am Ende des sozialdemokratischen Zeitalters materiell besser gegangen als je zuvor, und sie hatten sich noch nie so frei und selbstbestimmt fühlen können.
Wegen dieser Erfolge der »westlichen«, der liberalen Demokratie schien die Sozialdemokratie in den 1980er Jahren die Definitionsmacht über das politische Geschehen zu verlieren: Die Ära Kreisky war Geschichte, die Ära Mitterrand neigte sich ihrem Ende zu. In Europas Demokratien wehte nach wie vor ein demokratischer Zeitgeist; aber der wehte nun von rechts. Margaret Thatcher war die Chefingenieurin dieses neuen Zeitgeistes. Die Sozialdemokratie hatte ihre Schuldigkeit getan. Und weil sie dafür (mit)verantwortlich war, dass politische Demokratie und soziale Sicherheit selbstverständlich geworden waren, schien die Sozialdemokratie überflüssig zu werden.
Was tun? Bei der Suche nach einer Antwort genügt es, daran zu erinnern, was da alles noch ausständig ist – über die Erfolge der Regierungen Attlees und Palmes, Kreiskys und Mitterrands hinaus. Die Sozialdemokratie war ja noch vieles schuldig geblieben – vor allem die Erfüllung einer Forderung, die in dramatischer Sprache 1848 für die »Proletarier« von Marx und Engels formuliert worden war: Die Vereinigung der arbeitenden Menschen »aller Länder«, die nichts zu verlieren hätten als »ihre Ketten«. Dass Ende des 20. Jahrhunderts die »Proletarier« mehr zu verlieren hatten als »ihre Ketten«, das war erreicht. Aber das andere Ziel blieb in weiter Ferne – die Überwindung nationaler Verengung.
Die Sozialdemokratie hat im 20. Jahrhundert vieles durchgesetzt. Ihre Erfolge sind vom Standpunkt einer liberalen, pluralistischen, auf Parteiwettbewerb und rechtsstaatlichen Garantien aufbauenden Ordnung nicht in Zweifel zu ziehen. Aber vieles von dem, was die Sozialdemokratie versprochen und was ihre AnhängerInnen bewegt und motiviert hat, bleibt unerfüllt. Das Glas des Fortschritts, wie ihn die Sozialdemokratie einmal definiert hat – von Karl Marx bis Victor Adler, von Leon Blum bis Olof Palme – ist halb voll, aber es ist eben auch halb leer. Nicht, weil die SPÖ und die SPD, die Labour Party und der Parti socialiste keine »klassenlose Gesellschaft« hergestellt hätten. Diese Marxsche Utopie konnte und kann niemand verwirklichen. Der Sozialdemokratie ist freilich vorzuhalten, dass sie allzu lange sich selbst und der Welt die Illusion vermittelte, sie – die SPÖ etwa – könnte das Paradies auf Erden verwirklichen; eine Gesellschaft, in der alle Menschen – wie von Marx erträumt – alle ihre Bedürfnisse befriedigen könnten und zusätzlich alle Freiheiten hätten, nur das zu tun, was ihren Fähigkeiten entspricht.
Der Abschied von dieser Illusion erfolgte spät, aber er war unvermeidlich. Nicht unvermeidlich aber war und ist, dass sich die Sozialdemokratie die Konsequenzen ihres Erfolges nicht bewusst machte. Der (zumindest bescheidene) Wohlstand und die (nicht unerhebliche) soziale Sicherheit, von sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften im 20. Jahrhundert (vor allem nach 1945) erkämpft, sind Erfolge, die auf nationaler Ebene erreicht wurden. Der demokratische Sozial- und Wohlfahrtsstaat ist ein österreichischer und ein schwedischer, ein deutscher, ein britischer und ein französischer, ein niederländischer und ein norwegischer. Aber er hat nichts mit dem zu tun, was an jedem 1. Mai unter roten Fahnen skandiert wird: »Hoch die internationale Solidarität!«
Internationale Solidarität findet statt, wenn sozialdemokratische Stadtverwaltungen Che Guevara-Büsten aufstellen. Internationale Solidarität findet nicht statt, wenn es um die Rechtsstellung von ZuwanderInnen aus der Türkei oder Marokko oder Nigeria geht. Internationale Solidarität, das war der Protest gegen den von den USA geführten Vietnam-Krieg. Von dieser Solidarität war aber nichts zu spüren, wenn es darum ging, eine sozialdemokratische Handschrift bei der Entwicklung einer europäischen Asyl- und Zuwanderungspolitik zu entwickeln. Der Grund für dieses Defizit? Die sozialdemokratischen Erfolge haben aus ProletarierInnen KleinbürgerInnen gemacht; und die haben nun einiges zu verlieren. Sie sorgen sich um Urlaubs- und Pensionsansprüche, um ihre Kranken- und Unfallversicherung, um einen gewissen Wohnkomfort: alles, was eigentlich im Sinne der marxistischen Begrifflichkeit nicht unbedingt »proletarisch« ist, sondern nach »Bourgeoisie« schmeckt; alles, was gefährdet erscheint, wenn der Zuzug der Menschen von außerhalb in den Wohlstandsregionen Europas das Lohnniveau zu drücken droht und das, was als »eigen« wahrgenommen wird – Sprache und Konsumgewohnheiten und Freizeitverhalten und die Vertrautheit des Milieus – nun durch »Fremdes« herausgefordert wird.
Dass die Sozialdemokratie »Hoch die internationale Solidarität« zwar gerufen, nicht aber verwirklicht hat, das hat eine lange Vorgeschichte. Im Vorfeld des europäischen Totentanzes von 1914, der die erste der Weltkatastrophen des 20. Jahrhunderts auslöste, versuchte die Zweite (die sozialistische) Internationale ihr bestehendes Netzwerk zu nützen, um den Kriegsausbruch zu verhindern.