DAS PHÄNOMEN
Im klassischen Sinn bezeichnet Rassismus alle Ideologien, die die Menschheit hierarchisieren, indem sie diese in unterschiedliche (pseudo-) biologische ‚Rassen‘ mit genetisch vererbbaren Eigenschaften einteilen. Auf diese Weise rechtfertigte man die Sklaverei des Kolonialismus wie auch die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus. Dieser Rassismus ist heute in der EU geächtet. Aber Intoleranz und Diskriminierung von Menschen und Gruppen infolge ihrer Abstammung und Herkunft sind bleibende Realität. Denn der Rassismus hat seit jeher seine Gestalt und ideologische Begründung verändert (vgl. Geulen).
Regina Polak
Dr. theol., Assoc.-Prof.in, Vorständin des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien; Forschungsschwerpunkte: Religion und Migration, Werteforschung und interreligiöser Dialog; seit 2020 Personal Representative des CiO der OSCE on Combating Racism, Xenophobia and Discrimination, also focusing on Intolerance and Discrimination against Christians and Members of Other Religions.
Auch wenn umstritten ist, ob sich Rassismus ausschließlich auf People of Color oder auch andere Gruppen, wie z. B. MuslimInnen, beziehen soll, zeigen die Definitionen, dass ein psychologisches Verständnis von Rassismus als individuelles Einstellungsmuster oder als angeborene Angst vor Fremden zu kurz greift. Rassismus ist ein politisches Phänomen, das die Frage nach der Legitimation der politischen Ordnung und damit nach der Verteilung, Rechtfertigung und Erhaltung von Macht, Privilegien und Ressourcen etablierter Gruppen stellt. Rassismus ist deshalb keine Folge der Tatsache, dass es Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Kultur oder Herkunft gibt, sondern ein Konstrukt im Dienst eines Kampfes um politische Hegemonie. Er dient der Rechtfertigung von Etablierten-Privilegien wie auch der Verachtung, Diskriminierung, Exklusion und Vernichtung sozial marginalisierter Gruppen.
ÖKONOMISCH FORMATIERTER RASSISMUS
Im Gefolge der EU-Osterweiterung, der Finanzkrisen seit 2008 und der sog. Flüchtlingskrise 2015 sind auch im deutschsprachigen Raum rassistische Einstellungen wieder salonfähig geworden – zunächst geschürt durch rechtspopulistische Parteien, die vor „Umvolkung“ und „Bevölkerungsaustausch“ durch MigrantInnen und MuslimInnen warnen. Doch bereits 2010 zeigte z. B. die Europäische Wertestudie, dass die Übernahme rechtspopulistischer politischer Diskurse durch Mainstreamparteien zu einem signifikanten Anstieg antimigrantischer Einstellungen quer durch die Mittelschicht geführt hat (vgl. Rosenberger/Seeber, 186). Freilich nennt man diese Entwicklung hierzulande aus verständlichen Gründen nicht gerne Rassismus. Tatsächlich kehrt auch nicht der klassische Rassismus wieder; wohl aber die Frage nach der politischen Ordnung, nach Ressourcen- und Machtverteilung sowie nach Hegemonie in den europäischen Migrationsgesellschaften und in einer globalisierten Welt. Nicht zuletzt in den Konflikten um die Aufnahme geflüchteter Menschen lässt sich erkennen, dass damit auch die Frage nach der Einheit der Menschheit im Raum steht. Der Rassismus als Abwehrreaktion verändert dabei seine Legitimation. Ideologischer Kern der sog. ‚gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit‘ – so nennt das Forschungsprojekt „Deutsche Zustände“ (vgl. Heitmeyer) das Syndrom der Ablehnung von Arbeits- und Obdachlosen, MigrantInnen, Geflüchteten, MuslimInnen, JüdInnen und anderer Minoritäten – ist ein ökonomistisches Menschenbild. Diesem zufolge gibt es Menschen, die ökonomisch weniger wertvoll sind als andere und die daher exkludiert werden können, indem man ihnen z. B. staatliche Unterstützung entzieht. ‚Expats‘, d. h. wirtschaftlich nützliche und erfolgreiche MigrantInnen, werden daher auch weniger abgelehnt als Obdachlose und Geflüchtete.
Politisch kann diese Ideologie dazu benutzt werden, um von einer Debatte um jene ökonomischen Probleme abzulenken, die die gesamte Bevölkerung und die ganze Menschheit bedrohen. Kulturelle Konflikte, die zur Normalität von Migrationsgesellschaften gehören und Zeichen wachsender Integration sind, werden zur Ursache sozialer Konflikte erklärt. Von einer solchen Deutung profitieren am Ende auch Menschen ohne explizit rassistische Einstellungen sowie sozial marginalisierte Einheimische. Sie haben qua Geburt in die Mehrheitsgesellschaft Vorteile und Privilegien. Gesellschaftliche Spaltungen und Polarisierungen sind die Folge, sichtbar nicht zuletzt in den Konflikten um die Migrationspolitik.
KIRCHE UND RASSISMUS
Auch dieser Rassismus steht im Widerspruch zur Idee von der Einheit aller Menschen und stellt für die Katholische Kirche eine zentrale Herausforderung dar. Denn diese ‚Idee‘ gehört als Glaubensüberzeugung zum Kern der biblischen Offenbarung. Sie wird im Katechismus der Katholischen Kirche bekannt: „Das Menschengeschlecht bildet aufgrund des gemeinsamen Ursprungs eine Einheit. Denn Gott hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen (Apg 17,26)“ (KKK 360).
Dass diese Überzeugung aktuell bedroht ist und daher geschichtlich errungen werden muss, beschrieb Gaudium et Spes bereits 1965: „Heute steht die Menschheit in einer neuen Epoche ihrer Geschichte, in der tiefgehende und rasche Veränderungen Schritt um Schritt auf die ganze Welt übergreifen. […] Die Welt spürt lebhaft ihre Einheit und die wechselseitige Abhängigkeit aller von allen in einer notwendigen Solidarität und wird doch zugleich heftig von einander widerstreitenden Kräften auseinandergerissen. Denn harte politische, soziale, wirtschaftliche, rassische und ideologische Spannungen dauern an; selbst die Gefahr eines Krieges besteht weiter, der alles bis zum Letzten zerstören würde“ (GS 4).
Rassismus wird daher verurteilt: „Jede Form einer Diskriminierung in den gesellschaftlichen und kulturellen Grundrechten der Person, sei es wegen des Geschlechts oder der Rasse, der Farbe, der gesellschaftlichen Stellung, der Sprache oder der Religion, muss überwunden und beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht“ (GS 29).
Rassismus wird seither in zahlreichen Stellungnahmen der Kirche immer wieder verurteilt. [Einen Überblick bietet die Arbeitshilfe Nr. 67 der Päpstlichen Kommission Justitia et Pax: Die Kirche und der Rassismus.] Johannes Paul II. hält z. B. eindeutig fest: „Alle rassistischen Theorien widersprechen dem christlichen Glauben und der Liebe.“ (Justitia et Pax, Nr. 33). Betont wird die Berufung der Kirche, „inmitten der Welt das erlöste und in sich selbst versöhnte Volk zu sein, dies vor aller Welt zu bezeugen und die Einheit der Menschen jenseits aller ethnischen, kulturellen, nationalen, sozialen oder anderen Spaltungen, die durch das Kreuz Christi beseitigt wurden, zu verwirklichen“ (Justitia et Pax, Nr. 20). Papst Franziskus betont in Fratelli tutti: „Die ständig steigende Zahl der Verbindungen und Kontakte, die unseren Planeten überziehen, macht das Bewusstsein der Einheit und des Teilens eines gemeinsamen Geschicks unter den Nationen greifbarer. So sehen wir, dass in die Geschichtsabläufe trotz der Verschiedenheit der Ethnien, der Gesellschaften und der Kulturen die Berufung hineingelegt ist, eine Gemeinschaft zu bilden, die aus Geschwistern zusammengesetzt ist, die einander annehmen und füreinander sorgen“ (Fratelli tutti 96).
UND DIE PASTORAL?
Angesichts dieses Befundes müssten KatholikInnen gegen Rassismus gefeit sein. Doch die Europäische Wertestudie 2010 belegte, dass die Ablehnung von MigrantInnnen und MuslimInnen und der Wunsch nach homogenen Gesellschaften unter allen ChristInnen in Europa weit verbreitet sind (vgl. Arts/Halman, 89). Christliche Identität wird überdies vermehrt zur Abgrenzung von ethnisch, kulturell und religiös Anderen genutzt (vgl. PEW Research Center). Auch migrantische KatholikInnen berichten von Diskriminierungserfahrungen und sind in den Strukturen ihrer Ortskirchen nicht angemessen repräsentiert (vgl. Keßler). Rassismus ist in der deutschsprachigen