Als Begründer der ‚modernen Rassentheorie‘ des 19. Jahrhunderts gilt der französische Schriftsteller und Diplomat Arthur de Gobineau mit seinem Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen (1853–55). In diesem Werk bestehend aus vier Bänden entfaltete Gobineau seine Theorie der ‚arischen Herrenrasse‘ – Juden zählte er hier noch dazu. Zwar präsentierte er insgesamt keine neuen Untersuchungsergebnisse, doch bündelte er die vorhandenen ‚Rassenkonzepte‘ zu einer biologischen Gesamttheorie. Das Vorhandensein von ‚höheren, starken‘ und ‚niederen, schwachen Rassen‘ erklärte er mit der Degeneration der ‚reinen weißen Rasse‘, welche eine Folge der jahrhundertelangen ‚Rassenmischung‘ sei. Er forderte deshalb, dass sich die ‚höhere‘ gegen die ‚niedere Rasse‘ zur Wehr setzt. Nirgendwo erfuhr seine Ausarbeitung solch eine starke Rezeption wie in Deutschland, was ihn schließlich zum Vordenker des Nationalsozialismus machte. Auch Richard Wagner und Friedrich Nietzsche faszinierte Gobineaus ‚Arier-Mythos‘. Letzterer distanzierte sich zwar von der „verlogenen Rassen-Selbstbewunderung“, gleichzeitig machte er sehr wohl Gebrauch von den Begriffen ‚Herrenmensch‘ und ‚Herrenrasse‘. Anatomische Vermessungsergebnisse, die phänotypische Unterschiede belegen sollten, wurden mit kulturellen, psychologischen und soziologischen Verhaltensmustern verknüpft. Auf diese Weise sollten unerwünschte Menschengruppen identifiziert werden, um diese auszusondieren. Der Versuch, eine optimierte und überlegene ‚weiße Menschenrasse‘ heranzuzüchten wurde somit nicht erst 1933 angestellt, sehr wohl aber weiter vorangetrieben. Motor hierfür war die sich ausbreitende Angst vor dem zunehmenden Fremden in der eigenen Lebenswelt, welches ein Gefühl des Gefährdetseins auslöste. Die Existenz anderer ‚Rassen‘, die man selbst konstruiert hatte, befeuerte paradoxerweise wieder die Idee des Überlebenskampfes der eigenen ‚weißen Rasse‘. Als Grundlagentext für den institutionalisierten Rassismus in Deutschland während der NS-Zeit diente sodann das Werk von Houston Stuart Chamberlain namens Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, welches das rassentheoretische und dann antisemitische Agieren strukturierte. Chamberlain erachtete das deutsche Volk als die reinste Erscheinungsgestalt der arischen Rasse und nahm damit einhergehend eine antijüdische Haltung ein. Das 19. und 20. Jahrhundert zeichneten sich durch eine fortschreitende ‚Rassifizierung‘ und damit Hierarchisierung der Gesellschaft aus, welche sich in der ‚völkischen Rassentheorie‘ und der nationalsozialistischen Eugenik entlud, die eine Reinhaltung der ‚weißen Rasse‘ zum Ziel hatte. Die Transferübertragung des darwinistischen Selektionskonzepts vom ‚Survival of the fittest‘ auf die menschliche Populationsentwicklung vollzog der britische Naturforscher Francis Galton. Auf dessen Ausarbeitungen zurückgreifend trieben die Nationalsozialisten den ‚Rassenbiologismus‘ mit seinem planmäßigen Mord schlussendlich auf die Spitze.
FAZIT: WER WAREN ‚DIE RASSISTEN‘?
Anhand dieser aufgezeigten Schlaglichter auf die Geschichte des Rassismus tritt folgendes zutage: Rassismus wurde nicht von unreflektierten Menschen in die Existenz gehoben und geformt. Vielmehr war er ein interdisziplinäres Großprojekt der intellektuellen Elite, die sich am ‚Rasse-Mythos‘ abarbeitete, und ihm so zu seiner praktischen Verwirklichung innerhalb der gesellschaftlichen Mitte verhalf. Heutige Bemühungen, die damaligen ‚Rassentheoretiker‘ von ihrer Verantwortung zu entbinden, muten kurzsichtig an in Anbetracht der Tatsache, dass die gebildetsten und anerkanntesten Denker am Werk waren. Auch das Argument, dass sie allesamt „Kinder ihrer Zeit“ waren, es somit gar nicht besser wissen konnten, ist ein schwaches, weil einseitig verkürztes. Bestes Beispiel ist der gerade wieder an Bekanntheit gewinnende Rechtswissenschaftler und Philosoph Anton Wilhelm Amo, der als ghanaischer Sklave im 18. Jahrhundert nach Amsterdam verschifft wurde und schließlich an den Universitäten von Halle, Wittenberg und Jena studierte, forschte und dozierte. Neben Deutsch erlernte er Französisch, Niederländisch, Griechisch, Hebräisch und Latein. Immanuel Kant war ein Zeitgenosse Amos und kannte dessen Schriften – aber er zitierte ihn nicht. Dabei hatte Amo seine Dissertation (auf Latein!) unter dem Titel Über die Rechtsstellung der Mohren in Europa veröffentlicht. In dieser sprach er sich deutlich für die Menschenwürde und -rechte Schwarzer Menschen aus. Antirassistische Gegennarrative wie die von Anton Wilhelm Amo, der in der Öffentlichkeit stand und sich zu artikulieren sowie zu positionieren wusste, existierten somit sehr wohl bereits.
Rückbindend an den eingangs zitierten James Baldwin kann festgehalten werden: „[D]er Mensch tut sich schwer damit, nach seinem Wissen zu handeln. Handeln ist ein Bekenntnis, und Bekenntnis bedeutet Gefahr“ (Baldwin, 12). Und dennoch sieht Baldwin keinen anderen Weg als sich dem Unbehagen dieses Selbsteingeständnisses zu stellen: „[D]er Weiße [braucht] dringend selbst neue Wertmaßstäbe, die ihn von seiner Verwirrung erlösen und wieder fruchtbar mit den Tiefen des eigenen Seins verbinden. […] Der Preis für die Befreiung der Weißen ist die Befreiung der Schwarzen – die völlige Befreiung, in den Großstädten, in den Kleinstädten, vor dem Gesetz und im Kopf“ (Baldwin, 105).
LITERATUR
Arndt, Susan, Das Machtsystem. Geschichte des Rassismus; abrufbar unter: https://taz.de/Geschichte-des-Rassismus/!5694138.
Baldwin, James, Nach der Flut das Feuer. ›The Fire Next Time‹, München 2020 [1963].
Delacampagne, Christian, Die Geschichte des Rassismus, Düsseldorf u. a. 2005.
Geulen, Christian, Geschichte des Rassismus, München 32007.
Hund, Wulf D., Wie die Deutschen weiß wurden. Kleine (Heimat)Geschichte des Rassismus, Stuttgart 2017.
Husmann, Jana, Schwarz-Weiß-Symbolik. Dualistische Denktraditionen und die Imagination von »Rasse«. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie, Bielefeld 2010.
Mosse, George L., Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a. M. 2006 [1978].
Sarr, Felwine, Afrotopia, Berlin 2019.
Terkessidis, Mark, Psychologie des Rassismus, Opladen u. a. 1998.
[Link zuletzt eingesehen am 14.12.2020]
Rassismus: Herausforderung für die Kirchen
Rassismus ist ein Angriff auf die Idee der Einheit der Menschheit. In unserer zusammenwachsenden, wie auch von globalen Krisen erschütterten Welt nimmt er aktuell rasant zu – in Europa nicht zuletzt als gesellschaftliche wie politische Reaktion auf Migration. Dies ist auch eine Herausforderung für die Kirchen. Regina Polak
Die liberalhumanistischen Menschheitsvorstellungen des 19. Jahrhunderts haben „niemals den Ernst und den Schrecken erfasst, die der Idee der Menschheit und dem jüdisch-christlichen Glauben an einen einheitlichen Ursprung des Menschengeschlechts zukommen, sobald nun wirklich alle Völker auf engstem Raum mit allen anderen konfrontiert sind“ (Arendt, 500). Wie im europäischen Imperialismus der Rassismus zur politischen Waffe der Abwehr dieser Idee wurde, beschrieb Hannah Arendt 1951: „Je besser die Völker einander kennen lernen, desto mehr scheuen sie begreiflicherweise vor der Idee der Menschheit zurück, weil sie spüren“, dass in dieser „eine Verpflichtung zu einer Gesamtverantwortung miteinhalten ist, die sie nicht zu übernehmen bereit sind“ (Arendt, 500).
In unserer Welt, die durch ein hyperglobalisiertes Wirtschaftssystem, durch Mobilität und Migration, multimediale Kommunikations- und Symbolsysteme und transnationale Familien- und Freundschaftsbeziehungen zusammenwächst, sind ihre Aussagen von erschreckender Aktualität. Denn erneut reagieren weltweit Regierungen, politische Parteien und Gesellschaften mit Rassismus auf die Globalisierung. Nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie hat eine dramatische Zunahme rassistischer Übergriffe, Gewalttaten und Verschwörungstheorien im Gefolge (vgl. OSCE-Report). Auch wenn dieser Rassismus national vielgestaltig ist und multifaktorielle Ursachen hat: