»Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter,
ihr alle seid Söhne des Höchsten.
Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen,
sollt stürzen wie jeder der Fürsten.«
Nicht umsonst mahnt der heilige Johannes am Ende seines ersten Briefes: »Meine Kinder, hütet euch vor den Götzen!« (1 Joh 5,21). Denn es gehört zu den fatalsten Missverständnissen einer historistisch gestimmten Moderne, die Götzen allein in der Vorwelt des Mythos zu suchen, als dessen Relikte dann gar die wunderbare Geburt Jesu Christi, seine Auferstehung und Himmelfahrt durchschaut werden. »Es giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt: das ist mein ›böser Blick‹ für diese Welt, das ist auch mein ›böses Ohr‹ «, vermerkt Nietzsche im Vorwort zu seiner »Götzen-Dämmerung« (vgl. KGW VI.3,51). Sie steht neben Wagners Götterdämmerung, zu ihr sollte sich später die »Ergötterung« Heideggers hinzugesellen, der in seinem sog. zweiten Hauptwerk »Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)« erklärt: »Von den Göttern her das seynsgeschichtliche Denken begreifen ist aber ›das selbe‹ wie der Versuch einer Wesensanzeige dieses Denkens vom Menschen aus« (ebd. 439). Genau diesen Versuch hat Nietzsche vollzogen, wenn er in dem besagten Vorwort vorab konstatiert: »Kein Ding geräth, an dem nicht der Übermuth seinen Theil hat. Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft. – Eine Umwerthung aller Werthe, dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, dass es Schatten auf Den wirft, der es setzt – ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzu schwer gewordnen Ernst von sich zu schütteln. Jedes Mittel ist dazu recht, jeder ›Fall‹ ein Glücksfall. Vor Allem der Krieg. Der Krieg war immer die grosse Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordnen Geister; selbst in der Verwundung liegt noch Heilkraft.« In nichts anderem gründet eine Philosophie der Verblendung (»in die Sonne zu laufen«) oder wie Nietzsche abschließend zu verstehen gibt: »Diese kleine Schrift ist eine grosse Kriegserklärung« (vgl. ebd. 52). Und dass es Nietzsche damit durchaus ernst meint, geht aus dem Abschnitt 3 des Kapitels »Was ich den Alten verdanke« hervor: »In den Griechen ›schöne Seelen‹, ›goldene Mitten‹ und andre Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe in der Grösse, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern – vor dieser ›hohen Einfalt‹, einer niaiserie allemande zuguterletzt, war ich durch den Psychologen behütet, den ich in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs, – ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen Explosivstoff sicher zu stellen. Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich dann in furchtbarer und rücksichtsloser Feindschaft nach Aussen: die Stadtgemeinden zerfleischten sich unter einander, damit die Stadtbürger jeder einzelnen vor sich selber Ruhe fänden. Man hatte es nöthig stark zu sein: die Gefahr war in der Nähe –, sie lauerte überall. Die prachtvolle geschmeidige Leiblichkeit, der verwegene Realismus und Immoralismus, der dem Hellenen eignet, ist eine Noth, nicht eine ›Natur‹ gewesen. Er folgte erst, er war nicht von Anfang an da. Und mit Festen und Künsten wollte man nichts Andres als sich obenauf fühlen, sich obenauf zeigen: es sind Mittel, sich selber zu verherrlichen, unter Umständen vor sich Furcht zu machen … Die Griechen auf deutsche Manier nach ihren Philosophen beurtheilen, etwa die Biedermeierei der sokratischen Schulen zu Aufschlüssen darüber benutzen, was im Grunde hellenisch sei! … Die Philosophen sind ja die décadents des Griechenthums, die Gegenbewegung gegen den alten, den vornehmen Geschmack (– gegen den agonalen Instinkt, gegen die Polis, gegen den Werth der Rasse, gegen die Autorität des Herkommens)« (ebd. 151). Das ist Nietzsches wahres Gesicht – nicht das schönfärberische der gegenwärtigen akademischen Nietzsche-Rezeption: ein Gesicht, hinter dessen Griechenbild sich das Gesicht des Deutschen der wilhelminischen Ära verbirgt, mag Nietzsche selbst buchstäblich bis zuletzt Ressentiments gegen deren Repräsentanten und die Deutschtümelei seiner Zeitgenossen gehegt haben.
Denn auf die »grosse Kriegserklärung« der »GötzenDämmerung«, die im Jahre 1889 erschienen ist, folgt eine weitere, letzte: Todkrieg dem Hause Hohenzollern, der sich zweimal eine Letzte Erwägung anschließt (vgl. KGA VIII.3,457–461). Es handelt sich um Nietzsches letzte Aufzeichnungen vor seiner Umnachtung, in denen er, als wäre der Erste Weltkrieg in greifbarer Nähe, mit Bismarck und dem Hause Hohenzollern als Kriegstreibern abrechnet. [Wir haben das betreffende Fragment wiederholt zitiert, von unserer Nietzsche-Dissertationsschrift »Zur Phantasmagorie der Tradition« bis zu unserer letzten Abhandlung »Vom Kommen des Reiches Gottes« – à propos »Reich Gottes«, zu dem Nietzsche in der »Götzen-Dämmerung« nichts weiter einfällt als unter dem Abschnitt 4 von »Moral als Widernatur« die Feststellung: »Das Leben ist zu Ende, wo das ›Reich Gottes‹ anfängt …« (KGA VI.3,79).] Dabei sollte in jenen Jahren nur mehr der »Explosivstoff« zünden, den der »Psychologe« Nietzsche am Wesen des Griechen rühmte: »Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich dann in furchtbarer und rücksichtsloser Feindschaft nach Aussen« – nur waren es nicht mehr die Stadtgemeinden, die sich untereinander zerfleischten, sondern die alten Kulturvölker Europas. Obschon Nietzsche auftrumpft, als hielte er die Welt in den Händen, zeigt sich hier das ganze Ausmaß geistiger Verwirrung über die sich abzeichnende eigene Pathologie hinaus: Da wird für das Leben Partei ergriffen unter der Verherrlichung des Krieges, um dann, als der Krieg realiter in greifbare Nähe rückt, den maßgeblichen politischen Kräften ebenjene Schuld zuzuschieben, die der »Psychologe« Nietzsche zuvor – wie auch das menschliche Gewissen – nach Kräften geleugnet hat. Nur von Heidegger, der immerhin auf den Ersten Weltkrieg zurückblickte, ist solcher Widersinn noch überboten worden, ob in Affirmation des schuldhaften Gewissens in »Sein und Zeit« oder in der Verherrlichung des Todes als »das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns« in seinem zweiten Hauptwerk »Beiträge zur Philosophie« (vgl. ebd. 284). Immerhin hat Nietzsche die Tendenz dorthin relativ früh, in einem nachgelassenen Fragment vom Herbst 1880, erkannt: »Das höchste Todesziel der Menschheit auszudenken – irgendwann wird sich die Aufgabe darauf concentriren. Nicht leben, um zu leben« (KGA V.1,600). – Um gleich darauf sein Einvernehmen mit jener Tendenz zu bekunden: »Die guten Menschen haben in schweren Augenblicken keine Skrupel« (ebd. 601).
Bezeichnenderweise hat kein Philosoph oder Theologe, sondern der Nationalökonom Wilhelm Röpke, einer der Vordenker der sozialen Marktwirtschaft, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem Buch »Die deutsche Frage« (1945) die Konsequenzen jener Kriegs- und Todesverherrlichung beim Namen genannt. So leitet er einen längeren Abschnitt über Die Intellektuellen mit der Feststellung ein: »Es gibt in Deutschland kaum eine andere Schicht, die so verhängnisvoll versagt hat wie diejenige der Intellektuellen in ihrer Gesamtheit, mit Ausnahmen eines großen Teiles der Geistlichen beider Konfessionen. Dieses Versagen war deshalb so verhängnisvoll, weil es auf eine Lähmung des Gewissens der deutschen Nation hinauslief« (ebd. 70).
Dabei holt nun Röpke, der bis 1933 einen Lehrstuhl in Marburg innehatte – noch nach seiner Entlassung suchten ihn Nationalsozialisten wegen seiner ökonomischen Sachkompetenz aus seinem ersten niederländischen Exil zur Rückkehr zu bewegen –, keineswegs zu einem Rundumschlag aus. Vielmehr weist er, der im Ersten Weltkrieg in derselben Kompanie wie Ernst Jünger kämpfte, was ihn jedoch zum Gegner eines jeglichen Militarismus und von der ersten Stunde an des Nationalsozialismus werden ließ, auf den offenen oder subtilen Widerstand unter eigenen Fachkollegen,