2. Zur Bewertung der Ökonomisierung
Den umfassenden Einfluss kapitalistischer Ökonomie hat Walter Benjamin als Religionsersatz beschrieben: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d. h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.“ Er charakterisiert ihn als eine „reine Kultreligion“, die „keine spezielle Dogmatik, keine Theologie“ kenne. Sein Kultus kennt keine Unterbrechung, sondern prägt jeden Tag und dient der konsequenten Ausrichtung der Menschen auf Konsum, Arbeit und Gewinnmaximierung.311 Benjamins Analyse wurde gerade auch in der Theologie zustimmend aufgenommen: Die Ökonomie mit ihrem zentralen Steuerungsmedium Geld habe die bisherigen Kerndomänen der Religion übernommen, indem sie Sinn stiftet, Freiheit ermöglicht, Identität konstituiert, Zugehörigkeit festlegt, Heil und Rettung verspricht.312 Das Geld sei „das Sakrament der bürgerlichen Gesellschaft“ und „der ‚god term‘ der Moderne“.313 Oder der Kapitalismus wird gar als „neue Weltreligion“ und „Götzendienst“ betrachtet, deren Bekämpfung „die Hauptaufgabe für das Christentum“ darstelle.314
Wo die Rede vom Kapitalismus als Religion und Götzendienst einer pointierten Kritik der Auswüchse spätmoderner Ökonomisierung dient, ist sie zweifellos berechtigt. Dort wo sie selbst zu einer Religion, nämlich zur Religion des Anti-Kapitalismus wird, hört sie auf, hilfreich zu sein. Die Dämonisierung von Markt, Konsum und Gewinnstreben ist ebenso wenig sinnvoll wie deren Vergötzung. Denn beides verhindert, zunächst nüchtern die Funktionsweisen kapitalistischer Ökonomie zu sehen und auch deren Erfolge wertzuschätzen. „Geld ist weder Alles noch Nichts, sondern ein vorzügliches Mittel individueller und gesellschaftlicher Freiheit.“315 Daher bietet sich ein „kritisch-relatives“ Verhältnis zu Geld und Markt an.316 Auch die Ökonomisierung kann zu funktionalen Effekten führen: Die Schaffung von marktähnlichen Strukturen und damit die Verschärfung von Konkurrenz kann auch in nicht-ökonomischen Bereichen zu einem besseren Umgang mit Ressourcen und zu einer Steigerung der Qualität führen.
Damit sollen in keiner Weise die offensichtlichen Probleme und Gefahren kapitalistischen Wirtschaftens verharmlost werden: Es führt zu verheerenden Zerstörungen in unserem natürlichen Lebensraum, zu Arbeitslosigkeit und Ausbeutung und zu einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, die besonders im internationalen Vergleich eine Ungerechtigkeit darstellt. Auch die dysfunktionalen Effekte der Ökonomisierung werden immer deutlicher: So ist beispielsweise der Aufwand für externe Beratungsprozesse und Evaluationsprozeduren enorm, die Breite des Leistungsangebots und die Qualität der Leistung werden in Frage gestellt, und die Identifikation mit der eigentlichen Sache des Teilsystems droht zu schwinden.317 Doch auch hier gilt, dass Dämonisierung wie Vergötzung des Marktes nicht sinnvoll sind; denn sie erschweren oder verhindern realistische Wege zur notwendigen Begrenzung ökonomischer Macht und zur sozialen und ökologischen Gestaltung und Weiterentwicklung der Ökonomie und der anderen Teilsysteme. Praktische Theologie kann im Sinne einer prophetischen Umkehr- und Hoffnungstheologie destruktive Systemanteile analysieren und zu verändern suchen sowie neue Formen solidarischer Ökonomie zu entwickeln helfen. Engagierter als bisher müssen die Kirchen und die einzelnen Christen sich gegen Missstände einsetzen und Lebensweise und Konsum nach ökologischen und sozialen Kriterien gestalten.
3. Die Auseinandersetzung mit der Ökonomisierung als Element praktisch-theologischer Zeitgenossenschaft
Die Ökonomie ist zu einem äußerst machtvollen Leitsystem spätmoderner Gesellschaften geworden. Tendenzen der Ökonomisierung weiten ihren Einfluss in alle Lebensbereiche in einem Maße aus, die deren Eigenwert zu zerstören droht. Die hier angedeuteten Mechanismen können einer Praktische Theologie, die auf kritische Zeitgenossenschaft Wert legt, nicht gleichgültig sein. Auch wenn Theologen von sich aus keine Experten für die manchmal komplizierten ökonomischen Zusammenhänge sein können, wird zu fragen sein, inwiefern die nüchterne Analyse und die kritische Auseinandersetzung mit Ökonomie und Ökonomisierung erkennbar im Bewusstsein praktisch-theologischer Autoren und Autorinnen verankert sind und in ihren Entwürfen Berücksichtigung finden.318
Angesichts der Ökonomisierung aller Lebensbereiche müssen Kirche und Theologie die fatale Trennung zwischen pastoralem Handeln, das auf das Jenseits und das überzeitliche Heil, und sozialethischem Handeln, das auf das Diesseits und das Zeitliche ausgerichtet ist, überwinden.319 Denn nicht zuletzt sind auch die kirchlichen Strukturen Teil dieser Ökonomisierung.
Es wäre wünschenswert, dass sich praktische Theologinnen und Theologen theoretisch in den politischen Kampf gegen die zunehmende Ökonomisierung und die damit einhergehende Prekarisierung und Exklusion einmischen und praktisch die Teile der Kirche und die Christen unterstützen, die sich gegen Missstände einsetzen und ihre Lebensweise nach ökologischen und sozialen Kriterien zu gestalten suchen.
Grundsätzlich muss Praktische Theologie wachsam sein, um zu verhindern, dass einzelne Prinzipien, die sich in der Ökonomie bewährt haben, wahllos auf alle Lebensbereiche ausgedehnt werden. Der Ökonomisierung aller Lebensbereiche muss durch die Einsicht Einhalt geboten werden, dass das Recht des ökonomisch Stärkeren nicht Bereiche wie Recht, Politik, Freundschaft, Partnerschaft und Familie, Bildung und Wissenschaft, Religion und Kirche tyrannisieren darf. Es ist daran zu erinnern, dass das Leben und alles, was es bedeutsam macht, ein wunderbares Geschenk ist. Mit Paulus ist zu fragen: „Was hast du, das du nicht empfangen hättest?“ (1 Kor 4,7) Eine ökologisch und sozial sinnvolle Lebenspraxis könnte aus christlicher Sicht auf der Dankbarkeit und Freude an diesem Geschenk gründen. „Das Leben selbst als Gabe aufzufassen, stellt dann einen der stärksten Schutzwälle gegen seine Instrumentalisierung dar. Insofern steckt im Gedanken des Lebens als Gabe der Gedanke universaler Menschenwürde und unveräußerlicher Menschenrechte.“320
Paradoxalität
Christian Bauer
Ortstermin in der Berliner Kastanienallee. Irgendwann zum Jahrtausendwechsel stellten die ersten Clubs Secondhand-Möbel vor die Tür. Nicht für den Sperrmüll, sondern als Sitzgelegenheit. Junge Leute mit wenig Geld und einem Kopf voller Ideen machten aus ihrer Geldnot eine Tugend spätmoderner Lebenskunst. Ein paar alte Stühle aufs Trottoir, Sitzkissen auf die Fensterbrüstung – und fertig war ein lebenswerter, freundlicher Ort. Die Botschaft war: Feiern kann man überall. Und zwar ganz egal, wie kaputt das Kopfsteinpflaster und wie schäbig der Hausputz ist. Der Berlin-Style war entstanden: arm, aber sexy. Darin erschließt sich etwas vom Lebensgefühl einer Gegenwart, der die großen Utopien abhandengekommen sind. Es geht um den Existentialismus eines trotzigen „Als-ob“321, wie ihn Giorgio Agamben bei Paulus herausstellt: weinen, als ob