UNTERSCHEIDUNG UND ENTSCHEIDUNG EINEN VORRANG GEWÄHREN
Der unbedingte Vorrang in der Frage nach Volks- und Entscheidungskirche besteht darin, aus dem binnenkirchlichen Diskurs immer wieder auszubrechen und allen Menschen die christliche Vision des erfüllten Lebens attraktiv anzubieten. Eine Kirche in der Zeit des Entscheiden-Müssens wird zudem unbedingt die Kompetenz der geistlichen Unterscheidung – des Dreischrittes des Wahrnehmens, Interpretierens und Wählens – bei allen Gläubigen fördern müssen und ihnen entsprechende geistliche Begleiterinnen und Begleiter zur Verfügung stellen, die sie auf dem Weg des geistlichen Wachstums begleiten.
Mit Papst Franziskus erscheint die Versuchung der Gleichgültigkeit und des Dahin-Lebens größer als diejenige, ein zu viel oder falsch an Entscheidung zu treffen. Die Kirche wird also stärker auf die Entscheidung der Einzelnen setzen, die in der Christuserfahrung wurzelt, in der Unterscheidung ihre Methode hat und deshalb Wachstum in der Vision des erfüllten Lebens ermöglicht. In einer multioptionalen Umwelt obliegt es dann der Entscheidung der und des Einzelnen, ob sie oder er die Lebensvision des Christentums wählt oder nicht. Stehen wir aber in einer Zeit des Wählen-Müssens, wird es Menschen leichter fallen, eine Option zu wählen, deren Namen sie kennen. Anknüpfend an eine Debatte zwischen Hans Urs von Balthasar und Karl Rahner in den 1960er Jahren um Rahners „Anonyme Christen“ sei deshalb mit Balthasar formuliert: „Man sieht nicht mehr recht, wenn es mit der Namenslosigkeit so gut geht, wozu einer eigentlich noch ein namenstragender Christ sein soll […]. Zu meinem Unglück hatte ich, dessen Jugend in die Zeit der Kierkegaard-Welle fiel – Guardini erklärte ihn uns in Berlin – bei Kierkegaard gelesen, der Apostel Christi […] sei einer, der sich für Christus totschlagen lasse […]. Ist so etwas Leitbild, dann gibt es doch keine anonymen Christen, so viel Menschen im übrigen – hoffentlich alle! – durch Christi Gnade das Heil erlangen“ (Balthasar, 49).
LITERATUR
Balthasar, Hans Urs von, Rechenschaft 1965, in: Ders., Zu seinem Werk, Einsiedeln/Freiburg 22000.
Calmbach, Marc/Borgsted, Silke/Borchard, Inga/Thomas, Peter Martin/Flaig, Berthold Bodo, Wie ticken Jugendliche? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 19 Jahren in Deutschland, Wiesbaden 2016.
Guardini, Romano, Der Ausgangspunkt der Denkbewegung Sören Kierkegaards, in: Hochland 2 (April 1927-September 1927) 12-33.
Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Christus vivit“ (Es enthält als zentrale Kategorien einer kommenden Jugendpastoral die „Suche“ nach denen, die Christus noch nicht kennen, und das „Wachstum“ derer, die ihn bereits erfahren haben. Papst Franziskus zeichnet eine große Vision einer umfassenden „missionarischen Jugendpastoral“, die sehr lesenswert ist).
Pew Research Center, Umfrage zur Religiosität in Europa vom Dezember 2018, zu finden unter: www.pewresearch.org/facttank/2018/12/05/how-do-european-countries-differ-in-religious-commitment/ [abgerufen am: 20.08.2019].
Rahner, Karl, „Frömmigkeit früher und heute“, in: Ders., Schriften zur Theologie VII, Einsiedeln 21971.
Vellguth, Klaus, Der Streit um das „Mission Manifest“: Über evangelikale und pentekostale Strömungen in der katholischen Kirche in Deutschland, in: Krämer, Klaus/Vellguth, Klaus, Pentekostalismus. Pfingstkirchen als Herausforderung in der Ökumene, Freiburg i. Br. 2019, 211-237.
Volf, Miroslav/Croasmun, Matthew, Für das Leben der Welt. Ein Manifest zur Erneuerung der Theologie, Münster 2019.
Zulehner, Paul m., Aufbrechen oder Untergehen. Wie können unsere Gemeinden zukunftsfähig werden?, in: Herbst, Michael/ Ohlemacher, Jörg/Zimmermann, Johannes (Hg.), Missionarische Perspektiven für eine Kirche der Zukunft (BEG 1), Neukirchen-Vluyn 2005, 17-29.
THEMA
Thesen zur Zukunft von Gemeinden als Basisstruktur des Christlichen
In 6 Thesen werden im Folgenden primär soziologische Argumente zusammengetragen, die heute dafür sprechen, den Gemeinden vor Ort als Basisstruktur des Christlichen einen zentralen Stellenwert einzuräumen. Nachdem die katholische Kirche in ihrem Ringen um Selbstbehautung in der Moderne einseitig auf Organisation und Zentralisierung gesetzt hat, erscheint es heute an der Zeit, Kirche in Richtung der Gemeinde als Gemeinschaft zu reformieren. Karl Gabriel
THESE 1: ZUKUNFTSZWEIFEL
Im gesellschaftlichen wie im innerkirchlichen Diskurs überwiegen die Zweifel an einer Zukunft von Lokalgemeinden als Basisstruktur des Christlichen. Gesellschaftlich dominiert der Hinweis auf Jahr für Jahr sinkende Zahlen von Gemeindemitgliedern und auf den ungebremsten Trend zu geringer werdender Partizipation an allen Formen des Gemeindelebens.
Im theologischen und innerkirchlichen Diskurs sinkt der in der Nachkonzilszeit hell leuchtende Stern der Gemeinde als Hoffnungsort schon seit einigen Jahren. Die Zukunftsmusik spielt für viele Beobachter an anderen Orten als in Lokalgemeinden (vgl. Bucher; Ebertz 2003). Lose geknüpfte Netzwerke kleiner Gruppen engagierter Christinnen und Christen oder eine schnell lernende, delokalisierte kirchliche Organisation kommen in den Blick. Als Hauptproblem erscheint nicht einmal die seit längerem konstatierte Milieuverengung in den Lokalgemeinden, sondern der Umstand, dass gerade die Milieus fehlen, denen Dynamik und Zukunft zugesprochen wird. In den Augen der Sinus-Milieuforscher repräsentieren Kirchengemeinden viel Vormodernes, wenig Modernes und so gut wie nichts Postmodernes (vgl. Milieuhandbuch).
Es stellt sich die Frage, ob sich das Christentum der Zukunft nicht von Lokalgemeinden als Basisstruktur verabschieden muss. Von Zukunftsorten würden die real existierenden Gemeinden gewissermaßen zu Abschiedsorten und Räumen der Trauer um eine vergangene Sozialform.
THESE 2: EIN SOZIOLOGISCHER BLICK AUF DIE DREIFACHE STRUKTUR LOKALER KIRCHENGEMEINDEN
Wer eine überzeugende Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Gemeinde als Basisstruktur des Christlichen finden will, muss sich ihrer komplexen Struktur bewusst sein (vgl. Geller). Historisch über Jahrhunderte gewachsen, verschränken sich in der sozialen Realität der Kirchengemeinden heute drei Systeme. Im Westen Europas mit einem gewissen Vorsprung vor dem staatlichen Verwaltungsaufbau stellten Kirchengemeinden seit den gregorianischen Reformen des 11. Jahrhunderts die unterste Ebene im Verwaltungsaufbau der Kirche dar. Für die kirchliche Verwaltung der Heilsgüter kam der lokalen Struktur mit der Inklusion jedes zur Christenheit gehörenden Ortes eine zentrale Bedeutung zu. Sie sollte den Zugang und die Sicherstellung des Heils für jede und jeden garantieren. Bis heute bildet die lokale Kirchengemeinde die unterste Verwaltungsebene eines an der ordnungsgemäßen Spendung der Sakramente orientierten Systems.
Karl Gabriel
Dr. Dr. theol. habil., 1998-2009 Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Um die Kirchengemeinde als Ort der Heilsverwaltung haben sich zwei weitere Systeme angesiedelt. Kirchengemeinden sind heute Zentren vielfältiger Dienstleistungen. In diesem Systemzusammenhang wird auch die Spendung der Sakramente zu einem zentralen Teil der von der Kirchengemeinde und ihrem Personal bereitgestellten Dienste. Sie werden eingebettet in eine Vielzahl von religiösen, sozialen und kulturellen Dienstleistungen angeboten und vom Publikum mehr oder weniger stark in Anspruch genommen.
Kirchengemeinden sind aber nicht nur Verwaltungs- und Dienstleistungseinheiten, sondern verbinden