Diese und ähnliche Befunde bedürfen der Differenzierung zwischen städtischen und ländlichen Regionen, zwischen Nord-Ost und Süd-West und hinsichtlich der historisch gewachsenen kirchlichen Tradition und Kirchenbindung. Zur Säkularisierung tritt eine bisher nicht gekannte Wählbarkeit möglicher Visionen für das eigene erfüllte Leben hinzu. Während sich Menschen vorangegangener Generationen in kulturelle, religiöse, ökonomische und soziale Ordnungen eingebettet wussten, deren Gefüge an nachfolgende tradiert wurde, erlebt sich der heutige Mensch entbettet zuallererst als Individuum, denn als Glied einer Gruppe. Diese ungeheure Freiheit schenkt nicht nur die Möglichkeit zu wählen, sondern lässt ihr zugleich den Imperativ folgen, wählen zu müssen (vgl. Volf, 21f.).
Diese Entscheidung betrifft dabei nicht, dieses oder jenes Produkt zu erwerben, sondern – wenn die Frage in übervollen Lebensläufen denn überhaupt zugelassen wird – die Wahl einer Vision für das eigene erfüllte Leben. Der Mensch entscheidet sich nicht nur zwischen einem gläubigen oder nichtgläubigen Lebensentwurf, sondern zwischen den verschiedensten religiösen und nichtreligiösen Lebensphilosophien und deren schier unendlicher Kombinierbarkeit. Miroslav Volf folgert aus dieser Beobachtung: „Wir sind Wählende in einer postsäkularen und pluralistischen Welt. Frei zu wählen und gleichzeitig zum Wählen gezwungen, stehen wir auch vor der Wahl zwischen einem sinnvollen Leben und einem, das keinen Sinn hat“ (Volf, 25).
VOLKSKIRCHE ODER ENTSCHEIDUNGSKIRCHE? KLÄRUNG DER FRAGE
Die Frage, ob eine Volks- oder Entscheidungskirche die richtige Antwort auf die gesellschaftlichen Umbrüche sei, trägt sich in verschiedensten Assoziationen durch kirchliche Debatten. Sie wird z. B. mit Frömmigkeitsstilen – Worship oder nordische Stille? – oder der Frage nach Finanzinvestitionen – in das Event Ministrantenwallfahrt oder die Gruppenstunde vor Ort? – vermischt. Unheilvoller wird es, wenn die Frage nach der Katholizität, letztlich nach dem Seelenheil, hinzutritt und sich die Diskutanten gegenseitig die Katholizität absprechen, was zu persönlichen Verletzungen führt.
Klaus Vellguth formuliert in seinem Beitrag zum „Mission Manifest“ wertvolle Desiderate an die Initiatoren des Manifests. Er lädt ein, den theologischen Diskurs zu suchen, wozu in diesem Beitrag ein Versuch in Hinblick auf die erste These des „Mission Manifest“ unternommen sei (vgl. Vellguth, 231). Sie formuliert pointiert: „Uns bewegt die Sehnsucht, dass Menschen sich zu Jesus Christus bekehren. Es ist nicht mehr genug, katholisch sozialisiert zu sein. Die Kirche muss wieder wollen, dass Menschen ihr Leben durch eine klare Entscheidung Jesus Christus übergeben. Sie ist ja weniger eine Institution oder Kulturform als eine Gemeinschaft, mit Jesus in der Mitte. Wer Jesus Christus als seinem persönlichen Herrn nachfolgt, wird andere für eine leidenschaftliche Nachfolge Jesu entzünden“.
Unter „Volkskirche“ wird hier ein Glaube verstanden, der die kulturellen, gesellschaftlichen und persönlichen Lebensvollzüge durch eingeübte und tradierte Gewohnheiten prägt. Dies mag das Läuten der Glocken dreimal am Tag zum Angelus, der sonntägliche Kirchgang, das Gebet im Schützenzelt, der Herrgottswinkel im Haus … sein. „Entscheidungskirche“ bezeichnet demgegenüber einen Glauben, der in einem (einzelnen) Akt freiheitlich, willentlich und bewusst die Option der Nachfolge Christi wählt. Damit ergibt sich die Frage, wie sich (einmaliger) entschiedener Glaubensakt und (dauerhafte) gewachsene Glaubensgewohnheit in säkularem Umfeld zueinander verhalten.
EINSEITIGKEITEN ÜBERWINDEN
Wird die Frage als Disjunktion verstanden, sodass sich Entscheidungskirche auf der einen und Volkskirche auf der anderen Seite kontradiktorisch entgegenstehen, scheint sie gemäß der angegebenen Prämisse einer Multioptionalität zugunsten der Entscheidungskirche entschieden. Bevor die Jubelstürme auf der einen wie die Entrüstung auf der anderen Seite zu laut werden, muss die Frage an sich korrigiert werden. Wird nämlich die Entscheidung ohne die andere Seite absolut gesetzt, führt sie in die Verzweiflung, wie am dänischen Philosoph Sören Kierkegaard gezeigt werden kann.
Die Person besteht für Kierkegaard in einem Verhältnis zu sich selbst, ist dynamisch und erlischt, sobald der Akt beendet ist. Ihre Existenz ist also keinesfalls gesichert, vielmehr zutiefst gefährdet. Der Mensch steht zudem in einer Relation zu Gott, die aber ebenfalls keine Festigkeit bedeutet, sondern Gott kommt dem Menschen allein in dem Maß zur Gegebenheit, wie dieser mit jenem ernst macht, wie er ihn in einem Akt realisiert. Romano Guardini schlussfolgert in seiner Interpretation Kierkegaards: „Wir spüren den Akt, die Intensität, die – logisch gewiss anfechtbare, aber für Sicht und Gefühl deutliche – Angestrengtheit dieses ganz dynamisch gefassten Seins, Wirklichseins, das stets von der Gefahr bedroht ist, zu ermatten und ins Nichts abzusinken, die grimmige Entschlossenheit dieses ins Metaphysische reichenden Willens, seinen buchstäblichen Kampf ums Dasein gegen das aus jedem Geschaffenen aufdrohende Nichts“ (Guardini, 17).
Übertragen auf unsere Fragestellung bedeutet dies, dass der Einzelne an der ganzen ihm aufgetragenen Last der Entscheidung zum Glauben irre werden kann, dass er ins Nichts zu stürzen droht, statt Gott zu finden. Ein solcher Mensch benötigt also notwendig Halt, Stand und das Getragensein durch eine unverbrüchliche Gemeinschaft. Notwendigerweise scheint die Volkskirche – die Gewohnheit – als Ergänzung auf, deren Verabsolutierung aber ebenso in die Irre führt.
Wird die aus dem Christentum hervorgegangene Kultur, die Gewohnheit des Glaubens, die erlernten Traditionen von Erfahrung und Entscheidung getrennt, verkommt ein solcher Glaube, so Karl Rahner, zu „sekundärer Dressur“. Im Anschluss an sein berühmtes Diktum, wonach der Christ von morgen jemand sein wird, der etwas erfahren hat, fährt Rahner im selben Satz fort, dass die grundlegende Erfahrung notwendig ist, „weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird, die bisher übliche religiöse Erziehung also nur noch eine sehr sekundäre Dressur für das religiöse Institutionelle sein kann“ (Rahner, 22f.). Soll der gewohnheitsmäßige Glaubensvollzug also nicht nur sekundäre Dressur sein, benötigt er als seine Grundlage die Erfahrung und Entscheidung.
Werden beide Weisen für sich absolut genommen, führen sie in die Unmöglichkeit. Beide Seiten sind notwendig aufeinander verwiesen. Die binnenkirchliche Frage löst sich also vom „oder“ in ein „sowohl – als auch“ auf und öffnet damit den weiteren Horizont in die Welt hinein.
EINE CHRISTLICHE VISION DES ERFÜLLTEN LEBENS INS SPIEL BRINGEN
In diesem durch die zwei sich ergänzenden Pole ausgespannten Raum kann das Christentum heute seine Vision von einem erfüllten Leben anbieten, die – so der christliche Glaube – in der Person Jesu Christi unüberbietbar Mensch geworden ist.
Papst Franziskus bezeichnet in seinem jüngsten Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Christus vivit die Freundschaft mit Jesus Christus, die in der Begegnung mit einer Person besteht, als Grunderfahrung des Lebens (vgl. Papst Franziskus, 129). Damit ergibt sich eine Definition von Evangelisierung bzw. Mission. Mission bedeutet, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Menschen Jesus Christus begegnen. Aufgabe ist es also, vielfältige Räume zu eröffnen, in denen diese Erfahrung gemacht und die Entscheidung getroffen werden kann, Jesus Christus ins eigene Leben eintreten zu lassen. Daraus ergibt sich, dass diese Entscheidung die grundlegende des gesamten Lebens darstellt und jegliche (Jugend-)Pastoral „immer eine missionarische Pastoral sein muss“ (Papst Franziskus, 240).
In der Folge der Initiation des „Mission Manifest“ im Januar 2018 hat es mehrere Tagungen und wissenschaftliche Konferenzen sowie durch die Unterzeichnung von „Mission Manifest“ motivierte Einzelpersonen und auch Pfarrgemeinderäte gegeben, die die im Manifest beschriebenen Ziele diskutiert haben und im eigenen Leben und dem der Pfarrei umsetzen. Ein Beispiel ist die große Veranstaltung „Light up the Dome“ am 01. September 2019 auf dem Stadtfest in Fulda, bei der auf der Hauptbühne christliche Bands auftraten und mehreren tausend Menschen auch ein zeitgemäßer Raum der Erfahrung des Evangeliums eröffnet wurde.