INHALT
Volkskirche oder Entscheidungskirche? Ein Plädoyer für eine Vision des erfüllten Lebens
Von Paul Metzlaff
Thesen zur Zukunft von Gemeinden als Basisstruktur des Christlichen
Von Karl Gabriel
Reform durch „Missionarische Synodalität“
Die Replik von Paul Metzlaff auf Karl Gabriel
Halbiertes Christentum
Die Replik von Karl Gabriel auf Paul Metzlaff
„Volkskirche“: eine verheißungsvolle Realität
Ein Blick in die Zukunft der deutschen Großkirchen
Von Jan Hermelink
Ist die „Versorgung“ in der Fläche nicht mehr wichtig?
Von Gundo Lames
Von Dorothea Steinebach
Pflicht oder Kür?
Oder: Wie Fresh Expressions zeigen, dass Gemeinde nicht normal sein kann
Von Maria Herrmann
Abschied von der Volkskirche – Thesen zu einer aktuellen Kirchendeutung in kirchenhistorischer Perspektive
Von Andreas Henkelmann
Gemeinde nach dem Ende der Volkskirche. Eine Stimme aus den Niederlanden
Von Stefan Gärtner
Von Werner Otto
Von Fabian Brand
Von Hans Joas
Buchbesprechungen
Impressum
EDITORIAL
Matthias Sellmann Mitglied der Schriftleitung
Liebe Leserin, lieber Leser,
wie ist das nun eigentlich mit der Volkskirche? Ist sie schon weg und nur noch Erinnerungsgegenstand von manchen Älteren? Oder ist sie noch da und wandelt aber ihre Gestalt? Ist Volkskirche das, was gehen muss, um Besserem Platz zu machen? Oder hat Volkskirchlichkeit auch etwas, was man besser behalten sollte?
Beides kann man sich mit Fug und Recht fragen, denn für beide Ansichten gibt es triftige empirische Belege und ekklesiologische Gründe. Auf der einen Seite kann man im Mitgliederschwund der katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum natürlich einen Anlass sehen, den Anspruch von Volkskirche für überholt zu halten. Auf der anderen Seite kann es einem passieren, dass man in einer hochgradig unkonfessionell geprägten Stadt wie Hannover am Bahnhof Kaffee trinkt und in der Speisenkarte für Freitag nur Fischgerichte findet – denn Freitag ist doch Fischtag. Weiß doch jeder. Auf der einen Seite propagieren die einen die Entscheidungskirche, in der endlich die alte volkskirchliche Tendenz zur Mitläuferschaft überwunden sein wird. Auf der anderen Seite mahnen Stimmen, dass es auch etwas mit Freiheit zu tun hat, wenn religiöse Settings so angelegt sind, dass man mit viel Ruhe in den hinteren Bänken Platz nehmen darf, ohne dass einer nachfragt.
Das Themenheft ruft diese innere Debatte auf. Es fragt: Was gewinnt, was verliert man, wenn man nicht mehr Volkskirche sein will? Wie verändert sich, je nach Position, die Gestalt der Normalstruktur, des Regelbetriebs von Kirche: die Gemeinde? Ist Verkleinerung, aber Profilierung besser als die bisher gegebene breite, aber eben diffuse kulturelle Präsenz von Kirche? Oder anders, mit Rahner: Muss oder darf der Christ der Zukunft ein Mystiker sein? Und wenn er muss: warum?
Ihr
Prof. Dr. Matthias Sellmann
THEMA
Volkskirche oder Entscheidungskirche?
Ein Plädoyer für eine Vision des erfüllten Lebens
Eine Frau mittleren Alters eilt an diesem Donnerstagmorgen im Habit die „Längste Theke der Welt“ entlang geradewegs auf den Markplatz zu, dessen Mitte das Jan-Wellem Denkmal ziert. Umgeben von rotbraunen Klinkerbauten sieht er im Winter den Adventsmarkt und heute hunderte Menschen jeden Alters, die sich zu Heiliger Messe und anschließender Prozession durch die Altstadt Düsseldorfs versammelt haben. Über die hervorragend positionierten Lautsprecher werden traditionelle Gebete und Lieder ebenso übertragen wie der ein oder andere Worship-Song. Die Menschenmenge bahnt sich begleitet von zahlreichen staunenden Blicken vollbesetzter Cafés ihren Weg durch die Gassen entlang der Rheinterrassen hin zum Hofgarten, in dem der feierliche Schlusssegen gespendet und die missionarische Aktion #Himmelsleuchten der Katholischen Kirche in Düsseldorf eröffnet wird. An Tagen wie diesen frage ich mich, ob ich im „katholischen Rheinland“ einfach einer traditionell-volkskirchlichen Fronleichnamsprozession beiwohnte und wieviel Entscheidung es wohl für jede und jeden Einzelnen erforderte, betend durch die Straßen einer säkularer werdenden Stadt zu ziehen. Über den binnenkirchlichen Horizont hinaus erhebt sich in diesem Lebenskontext die vom Yaler Theologen Miroslav Volf übernommene Frage: „Was für ein Leben ist es wert, dass man es will?“ (Volf, 24). Paul Metzlaff
ZUNEHMENDE SÄKULARISIERUNG UND OPTIONALITÄT
Verschiedene Statistiken zur Religiosität in Deutschland bestätigen eine zunehmende Säkularisierung und Entfremdung von den institutionell-verfassten Kirchen. So konstatiert die bekannte SINUS-Milieustudie aus dem Jahr 2016 (vgl. Calmbach u. a.), dass die Kirche wenige junge Menschen z. B. aus den Milieus der „Prekären“ oder auch der „Experimentalistischen Hedonisten“ erreicht. Eine Umfrage des Pew Research Center vom Dezember 2018 befragte Erwachsene in europäischen Ländern nach ihrer Religiosität, wobei in Deutschland 11% angaben, dass ihnen Religion wichtig sei, 24% wöchentlich eine Art von religiösem Gottesdienst besuchen und 9% täglich beten würden. Aus diesen und weiteren Daten folgerten die Forscher, dass ca. 12% der Erwachsenen in Deutschland als hochreligiös einzustufen seien (vgl. Pew Research Center). Auch andere Autoren, wie z. B. Paul Zulehner, konstatieren, dass sich die christentümliche Gesellschaft ihrem Ende entgegen