Wirklich abfinden konnte sich Anil mit der Trennung nie. Beatrix musste ihn regelrecht aus der Wohnung werfen. Sie organisierte ihm ein Zimmer in der Stadt Zug. Anil hingegen behinderte Beatrix’ Bemühungen, für sich und Asheesh eine neue Wohnung zu suchen. An einer Bushaltestelle, mitten in der Stadt Zug, entdeckte Beatrix eines Tages per Zufall im Gebüsch einen zerrissenen Brief. Sie wunderte sich noch mehr, als sie las, an wen er adressiert war: an sie. Im Couvert befand sich der neue Mietvertrag für die Dreizimmerwohnung an der Moosmattstrasse in Luzern.
Asheesh litt unter den Streitereien seiner Eltern. Der sonst so pflegeleichte Bub mit den braunen Locken, der als erstes «Pizza» sagen konnte, damit aber «Pferd» meinte, schlug seinen Kopf manchmal derart heftig gegen den Boden, dass ihn Beatrix regelrecht wegzerren und vor sich selbst schützen musste. Im März 1981 zog Beatrix mit Asheesh nach Luzern. Am Mittag holte sie ihn jeweils ab vom Hort, in dem er sich wohlfühlte. Bald schon hörte er auf, sich selbst zu verletzen. Am Vormittag arbeitete Beatrix zunächst bei einer Baufirma in Root als Sekretärin, später bei einem Verlag in Luzern. Das Verhältnis zu Anil verschlechterte sich stetig. Sie kritisierte ihn regelmässig, wenn er Asheesh nicht genug warm anzog und der kleine Sohn, eben erst genesen von einer Erkältung, wieder eine neue auflas. Beatrix opferte einen grossen Teil ihrer Ferien für die Pflege des kranken Kleinkindes. Doch Anil, der Asheesh jeweils mit dem «Töffli» abholte und ihn, ohne Kindersitz und Helm, zwischen den Beinen mitnahm, zeigte kein Verständnis für Beatrix’ Kritik. Er fand, sie sei zu streng, wenn sie darauf bestehe, Asheesh um 19 Uhr ins Bett zu bringen, oder sie sei zu kleinlich, wenn sie sich aufrege, dass er ihm Kaugummi gebe. Anil monierte, Beatrix kleide Asheesh zu zweckmässig, zu wenig «herzig», zu europäisch, zu wenig indisch. In einem Brief an die Frauenzentrale Zug beklagte sich Beatrix, Anil werde immer sehr böse, wenn sie ihm erklären wolle, wie er Asheesh zu pflegen habe. «Er ist beleidigt und sagt mir, er wisse schon, wie er seinen geliebten Sohn betreuen müsse. Scheinbar weiss er es eben doch nicht. Ich möchte wirklich nicht, dass es so weitergeht. Von mir lässt er sich nichts sagen.» Beatrix fand es unverantwortlich, Asheesh seinem schon am Morgen betrunkenen Vater zu übergeben. Sie hätte Anil am liebsten nur noch ein begleitetes Besuchsrecht zugestanden. Zudem bahnte sich eine neue heikle Situation an. Anil wollte, wenn möglich schon im Frühling 1981, spätestens aber im Herbst, unbedingt erneut mit Asheesh nach Indien reisen. Seine Mutter, liess Anil Beatrix wissen, sei krank, leide unter psychischen Problemen und «wäre sehr glücklich, wenn sie mich und Asheesh sehen könnte». Doch eine Indienreise mit ihrem verschuldeten Ex-Mann kam für Beatrix nicht infrage. Ausserdem hatte sie eben erst Arbeit bei einer Baufirma gefunden und konnte sich so kurz nach Stellenantritt keine längere Ferienabsenz erlauben, wollte sie ihren Job nicht aufs Spiel setzen.
Indienreise wird Fall für Justiz
Anil bestand aber auch dieses Mal auf der Indienreise und schaltete das Kantonsgericht ein. Schliesslich stand im Scheidungsurteil, er dürfe insgesamt drei Wochen Ferien mit seinem Sohn verbringen. Dass Anil alleine mit Asheesh zu seiner Familie flöge, das wollte Beatrix aber unter keinen Umständen zulassen. «Im Übrigen kann ich meinem Ex-Mann in gar keiner Weise trauen», schrieb sie dem zuständigen Zuger Kantonsrichter. Da Anil so sehr an seinem Kind hange, könne sie fast sicher sein, dass sie ihren Sohn nie wiedersehen würde. Indien sei weit weg; in solch einem Fall etwas von der Schweiz aus zu unternehmen, sei sehr schwierig, noch schwieriger, weil ihr Schwiegervater ein hochrangiger Politiker sei und Inder bestechlich seien. «Ich bitte Sie dringlich, mir zu glauben und in Betracht zu ziehen, dass mein Ex-Mann eine andere Mentalität besitzt. Er hat mir mehrmals gedroht, das Kind wegzunehmen. Meine Eltern und viele meiner Freunde, die meinen Ex-Mann kennen, raten mir, äusserste Vorsicht walten zu lassen.» Es gehe um das Wohl des Kindes, für das sie sich verantwortlich fühle. Beatrix’ Eltern doppelten mit einem Schreiben an den Kantonsrichter nach: «Die grösste Sorge für uns ist jedoch, dass, wenn Herr Jetly alleine mit dem Kind nach Indien fährt, er nicht mehr zurückkehren könnte. Wir glauben fest daran, dass diese Gefahr besteht.» Nicht alle teilten diese Bedenken. Der gemeinsame Scheidungsanwalt riet Beatrix, Anil eine Indienreise mit Asheesh zu gewähren, «da dem Kind dadurch sicherlich nichts geschehen wird, da Ihr Ex-Mann selbst zu sehr am Kind hängt und dementsprechend gut zu ihm schauen wird, und dass Sie sicherlich auch nicht befürchten müssen, dass er das Kind nicht mehr zurückbringen würde, da er keinerlei Anstalten trifft, um Haushalt und seine Verpflichtungen aufzulösen, sondern selbst beabsichtigt, noch einige Jahre in der Region Zug zu bleiben.» Zudem, belehrte der Anwalt Beatrix, habe sie letztlich die Möglichkeit, Anil und Asheesh nach Indien zu begleiten. Beatrix beruhigte diese Sichtweise nicht. Sie wusste zu gut, wie schwer sich Anil mit dem Leben in der Schweiz tat, wie sehr er sich nach seiner Heimat und seiner Familie sehnte. Und sie beharrte darauf, dass das Recht auf drei Wochen Ferienzeit erst ab Asheeshs Einschulung gelten solle. Die Justizkommission des Kantons Zug wendete die Gefahr fürs Erste ab. Sie lehnte Anils Antrag ab. Beatrix spürte, dass sich Anil mit dem Urteil nicht abfinden würde. Die Lage entschärfte sich nicht wirklich. Mit jedem Besuchstag wuchs Beatrix’ Angst, Anil könnte mit Asheesh verschwinden. Sie hütete zwar Asheeshs Pass, der eine Auslandreise überhaupt erst ermöglichte, das kümmerte Anil aber nicht. Er liess sich, wie er Beatrix später erzählte, bei einer indischen Vertretung in Italien einen Pass für Asheesh ausstellen. Mitglieder des indischen Vereins in der Schweiz organisierten, ahnungslos über die Entführungspläne, die Flugtickets. Es tat ihnen später leid, was Beatrix aber wenig half.
Am Samstag, dem 28. November, an diesem kalten, stürmischen Tag, flog Anil mit Asheesh von Genf aus zurück nach Bombay, mit Einwegtickets und der festen Absicht, in Indien zu bleiben – vielleicht in der Hoffnung, Beatrix würde sich fügen und mit ihm in Zukunft in Bombay leben. Zumindest lassen sich Anils spätere Briefe so interpretieren. Eine erpresste Versöhnung kam für Beatrix nie infrage, auch wenn die Schwiegereltern für sie gesorgt hätten. Sie stand vor einem Scherbenhaufen: Die Ehe war gescheitert, der Sohn entführt, später verlor Beatrix zudem den Job bei der Baufirma, weil sie sich kaum mehr konzentrieren konnte. Beatrix brauchte erneut psychologische Hilfe. Ihre Verwandten kritisierten sie für die Heirat mit Anil. Hätte sie denn keinen Schweizer gefunden? Musste es unbedingt ein Ausländer sein, einer aus einem so fernen Land? Die Eltern und Freundinnen hingegen stützten Beatrix in dieser schwierigen Zeit. Sie beschloss, um ihren Sohn zu kämpfen, den kleinen Asheesh mit den braunen Locken, der seine Briobahn liebte und es genoss, wenn ihm seine Mutter Kinderlieder vorsang.
Rückblickend wird mir klar, dass ich nicht so lange hätte zuschauen dürfen. Mein kleiner Sohn war öfter in Gefahr in der Obhut seines Vaters. Auch Anils Psychospiele mit mir waren nur schwer zu ertragen und verfolgen mich heute noch in meinen Träumen. Ich wollte Asheesh seinem Vater jedoch nicht entziehen. Anil liebte ihn und verbrachte gerne Zeit mit ihm – es war eine zwiespältige Situation.
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