Die Jetlys bewohnten ein einfaches, einstöckiges Haus, in dem es kaum elektronische Geräte gab: keinen Staubsauger, keinen Kühlschrank, kein Radio und Fernseher, keine Klimaanlage. Das Wasser zum Duschen wurde auf dem Dach durch die Sonne erhitzt und war im Sommer brühend heiss. In der engen und verwinkelten Küche, die lediglich mit einer kleinen Gasherdplatte ausgestattet war, wimmelte es von Kakerlaken. Insgesamt acht Personen – die Eltern, Anil, seine zwei Brüder und seine Schwester, eine Pflegetochter sowie Beatrix – teilten sich drei Zimmer. Bedienstete, die meist aus den benachbarten Slums stammten, wuschen die Kleider draussen an einem Bach von Hand und kümmerten sich um den Haushalt. Man kaufte in kleinen Geschäften, die Lebensmittel und andere Alltagsgegenstände im Sortiment führten, ein. Nand Kumar Jetly setzte sich für arme Menschen ein und gründete eine Schule für die «Unberührbaren». Sein Verhalten gegenüber den Angehörigen der niedrigsten Kaste war aber ambivalent. Einmal, als er mit Beatrix durch die Stadt spazierte, traf ihn der Schatten einer ärmlichen Person. Das beunruhigte ihn so sehr, dass er sich daheim sofort duschte. Keine Berührungsängste zeigten die Jetlys bei Beatrix. Das ist nicht selbstverständlich in einem Land, in dem noch heute rund neunzig Prozent der Ehen durch die Familie arrangiert werden. Sie schlossen die Schweizerin rasch in ihr Herz, empfingen sie mit offenen Armen. Nand Kumar rühmte ihre Kochkünste und fand, sie bereite den allerbesten Chai-Tee zu. Und schon bald machte Anil Beatrix einen Heiratsantrag.
Die Zeit in Indien empfand ich als eine der glücklichsten in meinem Leben. Ich war sehr verliebt. Bis zu unserer Hochzeit und unserer Abreise in die Schweiz wohnte ich im Haus meiner Schwiegereltern. Sie und die ganze Familie, vor allem meine Schwägerin Veena und die Pflegetochter Usha, gaben mir das Gefühl eines neuen Zuhauses. Ich lernte viele indische Gerichte kochen. Mein Schwiegervater, den ich sehr mochte, nahm mich oft mit zu seinen Verpflichtungen als Brahmane. Wir verbrachten eine wunderschöne Zeit zusammen.
Glücklich verliebt in Indien: Beatrix im Hochzeitskleid, einem roten Sari (oben), und mit Anil in Pune.
Irgendeinmal, im Sommer, tauchten im Haus Jetly Astrologen auf, die das ideale Hochzeitsdatum eruierten. Sie empfahlen den 12. Juli 1977. An diesem Dienstag begann ein dreitägiges, pompöses und generalstabsmässig organisiertes Hochzeitsfest nach indischem Brauch, zu dem 3900 Gäste erschienen, darunter hohe Politiker, Verwandte und praktisch das ganze Quartier. Die Jetlys errichteten über ihrem Wohnhaus eine Art Zelt und stellten im Garten eine Bühne auf, auf der das Brautpaar sass, fest verbunden durch ein rotes und ein weisses Band, neben ihnen stand eine Schale mit Feuer und Kokosnüssen. Beatrix, die zum Hinduismus konvertiert war, trug ein exklusives Hochzeitskleid, einen mit goldenen Mustern verzierten roten Sari. Ihre Hände waren mit Hennamustern bemalt. Auf dem Hochzeitsgelände wurden die Gäste mit einer Parfümdusche begrüsst. Am ersten Tag sangen und tanzten Transsexuelle, die Hijras, die in Indien als heilig gelten und deswegen oft zu Geburten, Hochzeiten und anderen Festen eingeladen werden. Für ihre Segnungen erhielten sie Geld. Für die eigentliche Zeremonie liefen Beatrix und Anil sieben Mal um das Feuer, in das sie Reis als Symbol für Reichtum und Milch für Reinheit gaben. Das Paar schwor einander mit einigen Sätzen auf Hindi ewige Liebe. Dass Beatrix ihren Eltern nichts von der Trauung erzählte und sie vor vollendete Tatsachen stellte, bereitet ihr noch heute ein schlechtes Gewissen.
Beatrix wollte mit Anil in Indien bleiben, dachte, sie würde vielleicht eine Stelle als Sekretärin beim Schweizer Generalkonsulat in Indien finden. Ihre Schwiegereltern hatten bereits eine Wohnung in Bombay für das frisch vermählte Paar organisiert. Doch Anil wollte sich unbedingt in der Schweiz niederlassen. Er hoffte, er könne sich in diesem westlichen und wohlhabenden Land eine neue Existenz aufbauen. Beatrix, die manchmal an Heimweh litt, gab Anils Drängen nach. Im November 1977 zog das Paar in die Schweiz, lebte zunächst in Wald im Kanton Appenzell Ausserrhoden und liess sich danach in der Stadt Zug nieder, wo Beatrix eine Stelle als Sachbearbeiterin bei der Firma 3M East AG antrat. Anil erhielt bei der Verzinkerei Zug eine Anstellung als Hilfskraft in der Elektroabteilung – Beatrix’ Eltern hatten ihm den Job vermittelt. Der Vater, ein Schriftsetzer, und die Mutter, Büroangestellte, verübelten ihr die spontane Hochzeit nicht. Sie nahmen den indischen Schwiegersohn wohlwollend auf.
Das Paar erlebte eine unbeschwerte Zeit. Anil fror zwar im Winter, Schnee und Kälte setzten ihm leicht zu, und Skifahren war seine Sache nicht, doch beim Schlitteln schlug er sich tapfer. Beatrix führte Anil zum Rheinfall in der Gemeinde Dachsen, ihrem Heimatort, den Anil unbedingt besuchen wollte. Und wenn die beiden jeweils mit dem VW-Bus ihrer Eltern zu einem Zeltplatz fuhren, kam sogar wieder ein bisschen Hippiestimmung auf. Beatrix war sich sicher, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, zu heiraten. Auch im Haushalt bewährte sich Anil; oft kochten sie gemeinsam Indisch, zum Beispiel Alu Gobi, ein Gericht aus Kartoffeln und Blumenkohl, oder Baingan Bharta, ein Gericht aus Auberginen. Anil mochte es gerne scharf und würzte die mild gekochten Speisen mit Chutneys. Das Paar unternahm viel mit Freunden vom indischen Verein in Zürich. Beatrix trug einen roten Strich auf ihrem Haarscheitel als Zeichen, dass sie verheiratet war. Ein bisschen Heimat in einem fremden Land, das wollte sie ihrem Gatten bieten. Sie spürte schon bald, dass Anil, auch wenn er schnell Deutsch lernte und rasch Freunde fand, Heimweh plagte. Beatrix’ Schwiegermutter Premdevi, die Anil sogar einmal zwei Monate lang in der Schweiz besuchte, schickte ihm fast täglich Briefe, die er mit seitenlangen Briefen beantwortete. Was genau Anil zu Tränen rührte, verriet er Beatrix nie. Aber sie störte sich an diesem fast unnatürlich engen Verhältnis, das Premdevi zu Anil pflegte, den sie mit bloss 13 Jahren geboren hatte. Sie verwöhnte ihn und sorgte sich ständig um ihn, vielleicht auch, weil er einst bei einem Motorradunfall in Indien fast ums Leben gekommen wäre. Bestimmt genoss Anil als ältester Sohn einen besonderen Status bei seiner Mutter, die selbst arg vom Schicksal gebeutelt wurde. Sie, die mit nur acht Jahren mit dem damals vier Jahre älteren Nand Kumar verheiratet worden war, erlitt sechs Fehlgeburten. Solche Heiraten sind in Indien seit 2006 offiziell untersagt. Dennoch gibt es in keinem anderen Land mehr Kinderehen: Gemäss Schätzungen der UNO werden fast die Hälfte aller indischen Frauen vor dem 18. Lebensjahr verheiratet.
Traumatische Geburt
Im Sommer 1978 wurde Beatrix schwanger. Bub oder Mädchen, das spielte für sie keine Rolle, sie wünschte sich ein gesundes Kind. Anil hoffte auf einen Knaben, das würde sein Ansehen in der Familie zusätzlich erhöhen. Manchmal beschlichen Beatrix damals ungute Gefühle. Manchmal kam Anil, der in Indien keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte, betrunken nach Hause. Manchmal verspielte er Geld mit dubiosen Kollegen bei illegalen Glückspielen. Doch Beatrix freute sich in erster Linie über die Schwangerschaft, die so reibungslos verlief, und konnte darüber hinwegsehen, dass Anil sich schleichend zu verändern begann.
Nach unserer Heirat arbeitete ich als Sachbearbeiterin bei einer Firma. Beim Weihnachtsessen gewannen wir eine Reise nach Paris. Im Sommer 1978 traten wir diese wunderschöne Reise an. Für Anil war es sein erster Aufenthalt in Frankreich. Wir freuten uns riesig, bald schon wurde ich schwanger.
Beatrix überredete ihren Mann, gemeinsam Geburtsvorbereitungskurse zu besuchen und sie während der Geburt zu begleiten. Für einen Inder war diese Vorstellung aussergewöhnlich. Denn in Indien begaben sich die schwangeren Frauen meistens in ihr Elternhaus, um die Kinder in Abwesenheit ihres Manns zur Welt zu bringen. Beatrix wollte Anil, der sie während der Schwangerschaft liebevoll umsorgte, unbedingt an ihrer Seite haben. Doch dann erlebte er den Schock seines Lebens: Beatrix erlitt eine Fruchtwasserembolie, ein akut lebensgefährdendes Ereignis, das äusserst selten und nur bei einer von 50 000 Geburten auftritt. Die Ärzte sagten ihr damals, eine Fruchtwasserembolie verlaufe in mehr als neunzig Prozent der Fälle tödlich. Laut Studien des Universitätsspitals Zürich sind gesamtschweizerisch in den letzten dreissig Jahren 16 Frauen daran gestorben. Beatrix, die auf Wunsch von Anil glücklicherweise auf eine Hausgeburt verzichtet hatte, verlor viel Blut, sie lief dunkelblau an. Die Hebamme und die Ärzte erfassten die dramatische Lage rasch und holten den Buben am 24. März 1979 im Spital in Baar per Kaiserschnitt auf die Welt. Die Eltern nannten