In manchen Teilen der Gesellschaft wird im Zusammenhang mit Migration öffentlich vorwiegend im Modus des Imperativs gesprochen. «Ausländer raus!», «Grenzen zu!», «Haut ab!». Diese Art des Sprechens verweigert sich offensichtlich einer Kommunikation zwischen Personen auf Augenhöhe. Der Andere ist in dieser Form bereits erledigt. Das Gespräch, öffentlich oder privat, wird als überflüssig denunziert. Aber auch dort, wo der Dialog oder die Debatte über Migrationsfragen zustande kommt, wird auffallend oft im Modus des Negativen gesprochen. Auf der einen Seite heisst es: «Sie dürfen nicht kommen!», «Sie integrieren sich nicht!», «Sie sprechen kein Deutsch!», «Sie dürfen uns die Arbeitsplätze und Wohnungen nicht wegnehmen!». Auf der anderen Seite ist zu vernehmen: «Wir dürfen keine Mauern bauen!», «Wir respektieren sie zu wenig!», «Wir bieten den Ankommenden keine Unterstützung!», «Wir behandeln Flüchtlinge nicht wie Menschen!». Dieser negativen Sprechweise setzt der vorliegende Band eine möglichst positive entgegen. Von Interesse ist weniger, was nicht getan werden darf oder was unmöglich ist. Von Interesse ist das Mögliche und Machbare. Es geht um Sichtweisen und Ideen, die aufzeigen, was unvoreingenommen betrachtet getan werden kann und soll, zum Wohle möglichst aller.
DEN SINN FÜR DAS POLITISCH MÖGLICHE SCHÄRFEN
Was sollen wir tun? Diese Frage stellen sich Politiker häufig. Auch als Bürgerinnen und Bürger sind wir damit konfrontiert. Forschende haben sich mit dieser Frage ebenfalls auseinandergesetzt. Sie sind ständig auf der Suche nach besseren Erklärungen, Hypothesen, Modellen, um der Realität gerecht zu werden. Ihre Forschung liefert auch Antworten auf die Frage, was getan werden soll. Nur werden diese Antworten selten direkt ins Politische übersetzt. Einerseits sind die Forscherinnen und Forscher ihrerseits an diesem Dialog nicht immer interessiert und sehen häufig keinen Anreiz, daran teilzunehmen. Auf der anderen Seite neigen die politischen Entscheidungsträger oft dazu, solide Erkenntnisse der Wissenschaft ausser Acht zu lassen. Dieser verpasste Dialog äussert sich in vieler Hinsicht nachteilig und verursacht nicht zuletzt Kosten für die Gesamtgesellschaft. Wenn Ökonomen beispielsweise darlegen können, dass die einzelnen Stücke des gemeinsamen Kuchens nicht zwingend kleiner werden, wenn mehr Leute am Tisch sitzen und mitessen, weil nämlich der ganze Kuchen auch grösser wird, wenn mehr Leute mitbacken, dann liefern diese ökonomischen Ergebnisse durchaus Anhaltspunkte für eine Politik der Öffnung.15 Oder wenn Philosophen überzeugend nachweisen können, dass die Argumentation für eine restriktive Zuwanderung systematische Parallelen aufweist zur Argumentation der feudalen Oberschicht gegenüber Forderungen nach politischer Partizipation im 18. Jahrhundert, dann hat das durchaus aktuelle Implikationen.16 Oder wenn ein Team von Politikwissenschaftlern empirisch belegt, dass ein erfolgreiches Einbürgerungsverfahren die Bereitschaft, sich zu engagieren, massiv erhöht, dann könnten daraus konkrete politische Schlüsse gezogen werden.17 Diese fundierte Kenntnis kann ebenso öffentliche Relevanz beanspruchen wie etwa die Ergebnisse einer soziologischen Erhebung, die ergibt, dass der Grad an Selbstdiskriminierung ausländischer Jugendlicher und junger Erwachsener stark mit deren beruflichen Chancen korreliert.18 Der Sinn für das politisch Mögliche wird geschärft, wenn ein Historiker zeigen kann, dass die sympathischen Nachbarn von heute die unerwünschten Zuwanderer von damals sind,19 oder wenn ein Künstler mit seiner Installation einen Raum so zu verwandeln vermag, dass aus einem gefährlichen Spielplatz im Problemquartier ein belebter Ort der Begegnung und des Zusammenseins resultiert.20 Der Einbezug von Erfahrung, Wissen, Reflexion, Kreativität, Sprachvermögen und Risikobereitschaft ist zentral für Forschung und Innovation. Er ist unverzichtbar und orientierend auch für die Politik und für die Debattenkultur eines Landes.
Die Autorinnen und Autoren dieses Buches tragen zu dieser Debattenkultur bei. Sie analysieren Problemfelder und zeigen Handlungsmöglichkeiten auf. Sie formulieren 15 Vorschläge für die Zukunft und richten sich damit fragend und zum Gespräch einladend an alle.
Christine Abbt ist SNF-Förderprofessorin für Philosophie an der Universität Luzern. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Demokratietheorie und Kulturphilosophie. Johan Rochel ist Assoziiertes Mitglied des Ethik-Zentrums der Universität Zürich, Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen, Vizepräsident des Think-Tanks foraus – Forum Aussenpolitik und Gründer des Projekts «Ethik in Action».
VORSCHLAG 1
Demokratische Rechte auf Nicht-Staatsbürger ausweiten
WALTER LEIMGRUBER
Spricht man mit Auslandschweizerinnen und -schweizern, bekommt man in der Regel dezidierte Meinungen zur Schweiz zu hören. Manche sind schon seit vielen Jahren ausgewandert, andere erst seit kurzem, manche besuchen das Land regelmässig und unterhalten intensive Kontakte, andere beobachten es eher aus der Ferne und mit Hilfe verschiedener Medien. Aber kaum jemanden lässt sein Herkunftsland kalt. Die Meinungen dazu sind vielfältig, sehr häufig differenziert. Meist werden die gleichen positiven Punkte herausgestrichen: die Stabilität und Zuverlässigkeit, die demokratischen Rechte, die gute und nicht ruinös teure Ausbildung. Und in fast ebenso vielen Fällen kommen ähnliche Kritikpunkte: Das Land sei zu sehr auf sich selbst fokussiert, nehme die Chancen in einer sich wandelnden Welt zu wenig wahr, sehe die Möglichkeiten nicht, die sich gerade auch dank der weltweiten Community von Schweizerinnen und Schweizern bieten. Mehr Mut, mehr Offenheit wünschen sich viele Auslandschweizerinnen und -schweizer von ihrem Herkunftsland. Das sind einige erste Resultate von zwei Forschungsprojekten zur Auswanderung aus der Schweiz, die am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel durchgeführt werden und die unter anderem Interviews mit rund 150 Auswanderinnen und Auswanderern in zehn Staaten beinhalten.
Über 760 000 Personen, das sind mehr als zehn Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer, leben im Ausland. Nicht alle sind selbst emigriert, viele Familien leben seit Generationen nicht mehr in der Schweiz. Seit Anfang der 1990er-Jahre verlassen jährlich 70 000 bis 110 000 Personen das Land, davon sind knapp ein Drittel Schweizer Staatsangehörige. Deren Wanderungssaldo ist seit vielen Jahren negativ, das heisst, es wandern mehr Schweizer Bürgerinnen und Bürger aus als ein.1 Diese Auswanderung findet politisch und medial praktisch keine Beachtung. Migration ist zwar ein Dauerthema, aber nur in die eine Richtung; Auswanderer scheinen nicht zu interessieren. Natürlich gibt es aber doch die eine oder andere Aktivität: Die Politik verbessert die Beteiligungsmöglichkeiten für Auslandschweizer, indem sie elektronische Abstimmungen fördert, gelegentlich beschäftigt sich das Parlament mit der freiwilligen AHV oder einem anderen Problem, ab und zu hält ein Bundesrat eine Ansprache an einer Versammlung der Auslandschweizer-Organisation (ASO) und lobt die Verbundenheit der Ausgewanderten mit der Schweiz. Aber verglichen mit der Aufmerksamkeit für die Einwanderung ist Auswanderung kein Thema.
Dabei