Der Schoppenfetzer und die Weindorftoten. Günter Huth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Huth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783429063986
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Portion Leberkäs und einer Laugenstange, dann praktizierte er schwungvoll wenige Meter weiter den unzählige Male geübten Einkehrschwenk.

      „Hallo, Erich, komm setz dich her“, begrüßte ihn Ron Schneider, wie Rottmann eines der Gründungsmitglieder des Stammt isches, mit einer einladenden Handbewegung, „wir haben dir deinen Platz freigehalten!“

      Erich Rottmann winkte in die Runde. Obwohl gerade mal kurz vor elf Uhr, war der Maulaffenbäck schon voll und die Geräuschkulisse entsprechend hoch. Er schob sich auf seinen Stammplatz auf die Bank und legte sein Brotzeitpaket auf die Platte des runden Tisches. Sein Blick ging suchend durch den Gastraum. Er hielt Ausschau nach Anni, der Bedienung. Öchsle ließ sich währenddessen unter der Bank nieder.

      Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, dann kam die Gesuchte mit hochrotem Kopf aus dem Nebenzimmer geschossen. Rottmann winkte ihr zu. Sichtlich genervt winkte sie ab und hastete zum Tresen.

      „Was ist denn heute mit der Anni los?“, wandte sich Rottmann an seinen Tischnachbarn, den ehemaligen Leitenden Oberstaatsanwalt Dr. Horst Ritter, wie Rottmann Schoppenfetzer der ersten Stunde.

      „Vorhin hat sich unangemeldet eine Touristengruppe ins Nebenzimmer reingequetscht. Jetzt ist die Anni am Rotieren. Sie haben aber schon jemanden angerufen, der kommt und aushilft.“

      „Ich denke, der Andrang im Maulaffenbäck wird deutlich nachlassen, wenn das Weindorf anfängt“, warf Ron Schneider ein. „Der Wirt hat anklingen lassen, dass er dann vielleicht sogar ein paar Tage zumachen will.“

      Zwischenzeitlich hatte es Anni geschafft, Erich Rottmann wortlos einen Teller mit Besteck und seinen gewohnten trockenen Silvaner zukommen zu lassen, Rottmanns berühmtes „kleines Frankengedeck“. Rottmann unterließ wohlweislich jede frotzelnde Bemerkung. Wenn Anni in dieser Stimmung war, glich sie einem Pulverfass mit Lunte, das der geringste Anlass zum Explodieren bringen konnte.

      Während Rottmann sich den weihevollen Düften des frischen Leberkäses widmete, diskutierten die übrigen Stammtischmitglieder die Schoppenpreise auf dem Weindorf, die ihrer Meinung nach viel zu hoch waren. Das Thema war sehr emotionsgeladen, die Diskussion verlief aber noch in geordneten Bahnen – bis, ja, bis Horst Ritter eine Frage stellte, die er besser unterlassen hätte: „Was meint ihr, wie das wird, wenn wir im Schatten des FORUMS unsere Schoppen genießen müssen?“ Sekundenlang trat unter den Herren am Tisch Stille ein. „Du redest doch nicht etwa von diesem sogenannten Petrinihaus?“, gab Ron Schneider schließlich zurück.

      Rottmann verschluckte sich beinahe, so schnell würgte er den Bissen, den er gerade im Mund hatte, hinunter. „Ist es nötig, dass du jetzt von dieser neuerlichen architektonischen Entgleisung, diesem Klotz am Unteren Markt, anfängst, während ich esse?“ Er nahm einen kräftigen Schluck vom Silvaner, damit er wieder ungehindert sprechen konnte.

      „Also, wenn ihr mich fragt, hat das Teil doch einen gewissen Charme. Erinnert mich irgendwie an eine Feldscheune, die man mit Steinriegeln anstatt mit Brettern verblendet hat“, sagte Ritter. „Welche Stadt kann denn schon von sich sagen, dass sie mitten auf dem Marktplatz eine Scheune hat?“

      „Ich denke, dass der Architekt eher an eine Justizvollzugsanstalt gedacht hat, als er das teure Stück entwarf. Vergittert mit steinernen Querriegeln …“, wetterte Rottmann laut.

      „… damit sich die Banker, die darin hausen müssen, schon mal daran gewöhnen können, wie es ist, wenn man gesiebte Luft atmen muss … falls mal der eine oder andere Schwarzgelder der lieben Kundschaft in Liechtenstein verspekuliert.“ Ron Schneider ließ sein meckerndes Lachen hören.

      „Ihr müsst mal in der Nacht hingehen und dann eine Weile ganz still stehen bleiben, dann könnt ihr es hören.“ Horst Ritter sah die Schoppenfetzer mit todernster Miene an.

      „Was denn?“, bohrte Rottmann nach, als Ritter keine Anstalten machte weiterzusprechen.

      „Na, das rotierende Geräusch, wenn der alte Petrini mit hundert Sachen in seinem Grab herumwirbelt.“ Er grinste.

      Die Herren am Stammtisch waren alle keine Bewunderer der neuesten städtebaulichen Errungenschaft Würzburgs, die sich ihrer Meinung nach konsequent und harmonisch in die Reihe der übrigen Bausünden der vergangenen Jahre eingliederte.

      Es dauerte eine Weile, bis sich die Gemüter ob dieses Reizthemas wieder beruhigt hatten. Die braven Schoppenfetzer befanden sich mit ihrer Meinung auf einer Wellenlänge mit zahlreichen Bürgern der Stadt, denen dieser Petriniklotz, wie ihn Rottmann sehr schmeichelnd nannte, ebenfalls ein Dorn im Auge war.

      Schließlich glitt das Gespräch nach einiger Zeit wieder in thematisch ruhigeres Fahrwasser und der ordentliche Schoppen im Maulaffenbäck tat ein Übriges, um den schalen Geschmack im Mund der Stammtischbrüder zu vertreiben. Als sich die Runde kurz vor Mitternacht auflöste, hatte man sich für den nächsten Tag, den Tag der Eröffnung des Weindorfes, fest verabredet – ein Höhepunkt im Jahreslauf dieser Stadt und seiner weinbegeisterten Bürger, den sich die Stammtischfreunde aus dem Maulaffenbäck keinesfalls entgehen lassen würden. Dabei konnte keiner der Schoppenfetzer ahnen, unter welch dunklem Stern das diesjährige Weindorf stehen sollte.

      Wie immer hatten sich die Mitglieder des Stammtisches am ersten Tag des Weindorfes in der Weinlaube Zum Weintrödler verabredet. Dort pflegten sie die Festtage zu eröffnen, um dann irgendwann aufzubrechen und einen Rundschoppen, wie sie es nannten, durch möglichst viele Weinhütten zu beginnen. Zwischendurch stärkten sie sich mit den kulinarischen Spezialitäten, die hier auf den hungrigen Weingenießer warteten und jeden Geschmack zufriedenstellten.

      Es war ein langer Tag gewesen und es hatte mehrerer Absichtserklärungen bedurft, ehe sich die Schoppenfetzer dann doch voneinander verabschiedeten und ein jeder, angereichert mit bestem Rebensaft, seinen heimischen Gefilden zustrebte.

      „Össle, Össle, mach … mach mal lamsam … Ich muss jesst erst mal kurz Funken slagen …“ Erich Rottmann stand am Unteren Markt und versuchte mit nicht mehr ganz zielsicherer Flamme seine Pfeife zu entzünden. Irgendwie war der Pfeifenkopf heute deutlich kleiner als sonst und nur schwer zu treffen. „Stehen“ war allerdings für die Körperhaltung des Schoppenfetzers nicht ganz die richtige Bezeichnung. Der ehemalige Leiter der Mordkommission lehnte sich sicherheitshalber gegen den Obelisken des Marktbrunnens, der ihm eine gewisse „Standfestigkeit“ verlieh. Entsprechend der Tradition der Schoppenfetzer hatte sich Erich Rottmann am ersten Tag des Weindorfes nicht geschont und war bis an die Grenzen seiner bemerkenswerten Trinkfestigkeit gegangen.

      Öchsle sah sein Herrchen mit schief gelegtem Kopf verständnisvoll an, dann setzte er sich geduldig neben ihn. Wenn sein Mensch so sprach und roch, würde es etwas dauern, bis sie die heimische Rosengasse erreichten.

      Als die Bruyère endlich zufriedenstellend dampfte, stieß sich Rottmann von dem Brunnen ab und nahm leicht schwankend Fahrt in Richtung Langgasse auf. Dabei übersah er die Stufe, die vom Podest des Obelisken auf den Marktplatz zu überwinden war. Die Folge war, dass Rottmann mit Schwung einige Meter nach vorne sauste und Öchsle sich nur mit einem Seitensprung vor einer Kollision retten konnte. Mit einem lauten Kracher landete Rottmanns Allerwertester auf einer der verlassenen Bänke der nächsten Weinhütte.

      Es ist ja keine neue Erkenntnis, dass gewisse Zustände das Kind im Mann zum Vorschein bringen. Erich Rottmann bildete da keine Ausnahme. Kichernd blieb der Exkommissar einen Moment sitzen. Öchsle, der ihm besorgt nachgelaufen war und nun den Kopf auf das Knie seines Herrn legte, erklärte er: „Siehste, Össle … alles reine Körperbeherrsung! Alles reine Körperbeherrsung!“ Wobei er mit seinem Pfeifenstil dozierend in der Luft herum wedelte. Für einen objektiven fränkischen Beobachter wäre klar gewesen, dass Rottmann dem Verlust der Muttersprache sehr nahe war.

      Plötzlich sprang der Rüde auf, stellte die Knickohren auf und lauschte in Richtung Petrinihaus. Aus seiner Kehle löste sich ein verhaltenes Knurren.

      „Jest sei doch nich gleich sauer“, nuschelte Rottmann, „ich komm ja son.“ Mit einem Ruck stemmte er sich von der Bank hoch. Doch Öchsle