1806 wechselte er als Dozent an die Heidelberger Universität, um dort philosophische, physiologische und anthropologische Vorlesungen zu halten. Er bot aber auch Veranstaltungen zu altdeutscher Literatur an. Die erstaunliche Vielfalt seiner Interessen und seiner geistes- und naturwissenschaftlichen Kenntnisse wollte er einmünden lassen in eine Synthese von Geistes- und Naturwissenschaft.
Nach Heidelberg hatte ihn sein früherer Mitschüler und Jugendfreund Clemens von Brentano geholt. Zusammen mit ihm und Achim von Arnim wurde Görres zum Mitbegründer der jüngeren Romantik. Zu seinen Heidelberger Hörern gehörte auch Joseph von Eichendorff. In den Tagebüchern von Joseph von Eichendorff charakterisiert der romantische Dichter die Astronomie-Vorlesung von Joseph Görres: „Blaß, jung, wildbewachsen, feurigen Auges, aber monotoner Vortrag.“ Seine philosophische Vorlesung empfand Eichendorff als „ein göttlich Kolleg.“ Später schreibt er „Es ist unbegreiflich, welche Gewalt dieser Mann, damals selbst noch jung, auf die Jugend ausübt. Sein freier Vortrag war monoton, fast wie ein fernes Meeresrauschen, schwellend und sinkend, aber durch das einförmige Gemurmel leuchteten zwei wunderbare Augen und zuckten Gedankenblitze beständig hin und her; es war wie ein prächtiges nächtliches Gewitter, weckend und zündend für ein ganzes Leben.“10
Doch die Heidelberger Zeit blieb Episode. 1808 kehrte er auf die freigehaltene Stelle an der Sekundärschule in Koblenz zurück. Dort setzte er seine eklektischen sprachwissenschaftlichen und mythologischen Studien fort und lernte sogar im Selbststudium Persisch. Er veröffentlichte eine zweibändige „Mythengeschichte der asiatischen Welt“ (1810). In den Vorworten zu seinen Werken und in Aufsätzen behielt Görres das politische Geschehen in Deutschland im Auge. In „Über den Fall Teutschlands und die Bedingungen einer Wiedergeburt“ (1810) plädierte Görres für eine sittlich-religiöse Erneuerung. Als Voraussetzung einer solchen Erneuerung forderte er die Schaffung einer öffentlichen Meinung als Gewissen der Nation und der Regierungen.11
III.
Es sollte nicht lange dauern, bis Görres seine Forderung nach der Formierung einer öffentlichen Meinung selbst verkörpern konnte. Nach der Völkerschlacht von Leipzig (1813) erschienen im Januar 1814 die Heere der Alliierten am Rhein. Vor ihnen zog sich die französische Besatzungsmacht zurück. So konnte Görres am 23. Januar die Erstausgabe einer neuen Zeitung, nämlich seines „Rheinischen Merkur“ herausbringen. Mit Joseph Görres sollte der „Rheinische Merkur“ seine Leser für die deutsche Sache und die der Heiligen Allianz gewinnen.
Görres‘ Popularität, seine Sprachkraft, seine Energie verhalfen dem Rheinischen Merkur trotz der geringen Auflage von 5.000 Exemplaren zu der Stellung eines Nationalblattes, wie es Deutschland weder vorher noch nachher besessen hatte. Das Blatt erschien zwei bis viermal wöchentlich und wurde bald als Stimme Deutschlands im Kampf gegen Napoleon wahrgenommen. Mit dem Titel „Rheinischer Merkur“ wollte Görres „die rheinische Zunge, welche seit zwanzig Jahren in der Genossenschaft deutscher Völkerschaften beinahe ganz verstummt, in dem großen deutschen Orden wiederherstellen und ihr wieder Sitz und Stimme verschaffen im Rat der Brüder.“12
Der „Rheinische Merkur“ und sein Herausgeber wurden zum nationalen Sprachrohr der Deutschen gegen die Napoleonische Herrschaft. Von der nationalen Erregung ließ sich auch die deutsche Elite anstecken. Nicht nur die romantischen Schriftsteller und Freunde von Joseph Görres wie Clemens von Brentano, Achim von Arnim und die Gebrüder Grimm, auch Ernst Moritz Arndt, Gneisenau, Blücher und Scharnhorst unterhielten enge Beziehungen zum Herausgeber des „Rheinischen Merkur“. Auch der Weimarer Geheimrat Goethe besuchte zusammen mit Freiherr vom Stein Görres im August 1815 in Koblenz und frühstückte mit der Familie Görres auf der Kartause.13
Nach der Niederlage Napoleons konzentrierte sich Görres auf den Kampf gegen die Ergebnisse des Wiener Kongresses. Auf ihm hatten die Fürsten beschlossen, den Deutschen Bund wiederherzustellen, nicht aber das deutsche Kaisertum unter österreichischer Führung. Vor allem attackierte Görres den Bruch der Verfassungsversprechen und die Rückkehr des absolutistischen Geistes und bürokratischer Schikane (Rudolf Morsey) in den jetzt von den Preußen verwalteten Rheinlanden. Die Kompromisslosigkeit seines Engagements machte ihn zum Hoffnungsträger der freiheitlichen Patrioten und gleichzeitig zur Gefahr für die Politik der Restauration, zu der sich die preußische Regierung entschlossen hatte. Zu Beginn des Jahres 1816 verloren die preußischen Behörden die Geduld mit dem zornigen Publizisten aus Koblenz und verboten den „Rheinischen Merkur“.
Um den unbequemen Geist aus dem Rheinland abzuziehen, bot ihm die preußische Regierung einen Lehrstuhl in Berlin an. Er lehnte ihn ab mit dem Hinweis, wenn er in Berlin zu einem Lehramt tauge, dann tauge er auch für seine Professur in seiner Heimat, nämlich an der neu errichteten Universität Bonn. Zuvor hatte er einen Ruf nach Lüttich ebenso abgelehnt wie die Berufung auf die Leitung der Stuttgarter Kunstschule. Görres befürchtete eine Verminderung seiner publizistischen Wirksamkeit, wenn er seinen heimischen Humus verlöre.
Nach der Ermordung des Dramatikers und russischen Staatsrates August von Kotzebue durch den Studenten Karl Ludwig Sand reagierten die preußischen Behörden mit verschärfter Repression. Kotzebue hatte in seinem 1818 gegründeten „Literarischen Wochenblatt“ die freiheitlichen Ideen des Wartburg-Festes verspottet. Die harte Reaktion des Staates auf das Attentat ließ Görres erneut zur Feder greifen. Unter dem Titel „Teutschland und die Revolution“ (1819) verfasste er eine in glühender Sprache gehaltene Kampfschrift gegen den Polizeistaat. Erneut sagte er sich von seiner jakobinischen und radikaldemokratischen Vergangenheit los und plädierte für die bewahrenden Kräfte von Monarchie und Kirche. Er hob die wichtige Rolle der Religion für die Sicherung geistiger und politischer Freiheit hervor. Nach Abschluss des Manuskriptes sagte Görres: „In Berlin wird’s diesmal sehr donnern.“14 Es war mehr als Donner: Friedrich Wilhelm III. erließ per Kabinettsorder einen Haftbefehl gegen Görres und wollte ihn in die Festung Spandau bringen lassen. Görres erfuhr rechtzeitig von der drohenden Verhaftung und setzte sich nach Frankfurt ab. Als er auch dort verfolgt wurde, floh er nach Straßburg ins Exil. Dort sollte er bis 1827 bleiben, einschließlich eines einjährigen Aufenthaltes in der Schweiz.
IV.
Die Trennung vom Rheinland für den Rest seines Lebens markiert eine wichtige Zäsur in Görres’ äußerem Lebensweg. „Sein Vaterland hat ihn ausgespien“, kommentiert sein Freund Clemens von Brentano den neuen Wohnort.15 Es ist nicht ohne Ironie, dass Görres, der Frankreich so lange bekämpfte, in Straßburg Zuflucht finden sollte und die Stadt ihn mit offenen Armen empfing. Benjamin Constant begrüßte ihn als den von den Königen Europas Verfolgten. Die Pariser Zeitung „Moniteur“ stellte ihn pathetisch unter Frankreichs Schutz. In Straßburg könne er, wie ihn Achim von Arnim tröstet, „die Periode der Dummheit bequem abwarten.“16 Dort kam Görres tatsächlich zur Ruhe und setzte seine schriftstellerische Tätigkeit fort.
Im Exil weitete sich das Blickfeld von Joseph Görres auf Europa aus. In nur 27 Tagen verfasste er seine Schrift „Europa und die Revolution“ (1821). Es ist die wahrscheinlich bedeutendste und tiefsinnigste seiner politischen Schriften. In ihr hielt er Europa das politische Elend seines gegenwärtigen Zustands in einer an das Alte Testament erinnernden Sprache vor Augen. Erneuerung und Wiedergeburt vermögen die Staaten nur durch innere Festigung erreichen. Ein lebensfähiger und zukunftsfester Staat gelinge nur auf der Grundlage der Religion, die