KEIN NEUES SCHUBLADENDENKEN
Auch wenn die meisten Menschen sehr am Leben hängen, gibt es nicht wenige, die nach einem erfüllten Leben und langer Krankheit „lebenssatt“ sind und nicht unbedingt gegen ihr Schicksal ankämpfen. So wie wir Kübler-Ross kritisieren für ihr „Schubladen-Denken“, so sollten wir nicht neue Schubladen schaffen, indem wir bestimmte Attribute, z. B. der Verallgemeinerung oder bestimmter Themen, allen Sterbenden zuschreiben. Sterbende kennen nicht nur das eine Thema – die Erkrankung und den Wunsch zu leben, sondern es gibt viele Themen und Fragen, die sie am Lebensende bewegen. Da ist die Sorge um die Familie, manchmal sogar stärker als die Sorge um sich selbst, oder die Frage, was lasse ich zurück, kann ich „ja“ sagen zu meinem Leben?
Diese Fragen wollen gehört werden. Dazu braucht es das Ohr des Begleiters, der die Sprache der Sterbenden versteht und ihre Bilder mit ihnen deutet. Und der ihre Ängste hört und versteht, sie mit aushält, aber auch hilft, dass die Ängste nicht nur lähmen und überwältigen, sondern sich auch in Hoffnung verwandeln. Dieses Spannungsfeld zwischen Angst und Hoffnung, oder die Ambivalenz, wie Engelke es nennt und treffend beschreibt, prägen diese Zeit des Abschiednehmens. Wenn es auch für Außenstehende schwer vorstellbar ist, aber auch die Zeit des Sterbens kann eine Quelle von Hoffnung sein. Hoffnung auf vieles – auf möglichst wenig körperliche Beschwerden, auf Nähe zu den Lieben, und letztlich dann auch in Frieden gehen zu dürfen.
Es ist sicher auch eine Zeit der unrealistischen Hoffnungen, die für die Umstehenden oft eine Herausforderung sind, besonders, wenn es um Therapieentscheidungen und Entscheidungen am Lebensende geht. Unrealistische Hoffnungen lenken häufig den Blick von dem, was jetzt gerade ist, ab und nehmen vielleicht die Möglichkeit, sein Leben abzuschließen und noch die Dinge zu tun, die für den Betroffenen wirklich wichtig sind. Hier ist eine behutsame Begleitung, die den Blick wieder mehr auf das Hier und Jetzt lenkt und realistische Hoffnungen suchen lässt, sehr wertvoll.
Die Ambivalenz zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Festhalten und Loslassen, zwischen Einstimmen und Auflehnen scheint uns Menschen zutiefst zu eigen und ist in dieser Lebensphase fast normal. Diese Ambivalenz gilt es auszuhalten und, wie Engelke schreibt, mit einem „und“ zu verbinden. Es ist nicht entweder – oder, es darf beides sein und gehört zusammen.
Die Kunst und Aufgabe des Begleiters ist es, dies zu ermöglichen und den Patienten in seinem Weg zu unterstützen, auf dem der Kranke Richtung und Tempo vorgibt. ■
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