STERBEN NACH PLAN?
In der modernen Medizin wird seit Johann Lukas Schönlein (1793–1864) Kranksein aus biologisch-medizinischer Sicht als Prozess verstanden und mit Stadien oder Phasen der Entwicklung beschrieben. In gleicher Weise wird seit Anfang des 20. Jahrhunderts Sterben aus psychologischer Sicht ebenfalls als ein Prozess beschrieben, in dem der Sterbende bestimmte Phasen durchlebt. Das bekannteste Phasenmodell ist von Elisabeth Kübler-Ross 1969 vorgestellt worden. Das Modell ist mit seinen fünf Phasen in seiner Art deskriptiv, wird aber oft so verbreitet und aufgenommen, als sei es präskriptiv (ein Fahrplan für das Sterben). In der internationalen Sterbeforschung wurden von Anfang an gravierende, sozialwissenschaftlich fundierte Einwände gegen dieses Phasenmodell und generell gegen Modelle, die das Sterben mit gestuften Verhaltensweisen beschreiben, angeführt. Neben den methodischen Fehlern wird bemängelt: Mit der Generalisierung und Standardisierung des Verhaltens (leugnen, erzürnen, verhandeln, depressiv sein, zustimmen) werden das Persönliche des Sterbenden und seine Einzigartigkeit missachtet. Obgleich Kübler-Ross in ihrem Buch sogar
Ernst Engelke
geb. 1941, Dr. theol., Prof. em. für Soziale Arbeit in Würzburg, zuvor Klinikseelsorger; seit 2001 Engagement im Palliativ- und Hospizzentrum der Stiftung Juliusspital Würzburg; seit 1975 Publikationen zu Sterbeforschung, Palliative Care, Hospizarbeit und zur Sozialen Arbeit. selbst betont, dass Sterbende „ihren persönlichen Stil, ihre gewohnten Verhaltensweisen“ (Kübler-Ross, 36) auch im Sterben nicht aufgeben, besteht sie darauf, dass jeder Sterbende diesen Prozess durchmacht.
Die Studien der empirischen Sterbeforschung haben dagegen ergeben: Den Sterbenden gibt es nicht und ein gesetzmäßiger Verlauf des Sterbens, dem alle Menschen unterliegen, ist auch nicht zu erkennen. Mit dem Satz „Individualität und Universalität verbinden sich beim Sterben“ hat Richard Kastenbaum die Erkenntnisse der Sterbeforschung auf den Punkt gebracht (Kastenbaum, 126–149). Aus Sicht eines Sterbenskranken: „Das Faszinierende am Tode ist folgendes: Der Tod ist das Allgemeinste und zugleich das Individuellste“ (Noll, 109). So, wie das Leben eines jeden Menschen einzigartig ist, ist auch sein Sterben einzigartig. Dennoch gibt es Übereinstimmungen im Sterben aller Menschen: Typisches im Individuellen eben, Gemeinsames und Persönliches.
Gemeinsames: Jeder Sterbenskranke kommt zu Erkenntnissen, die für das Sterben typisch sind und die er nicht ignorieren kann. Da ist vor allem die Erkenntnis: „Mein Leben ist durch meine Krankheit bedroht.“ Jeder Sterbende muss Aufgaben, die für das Sterben typisch sind, lösen. So muss er zum Beispiel entscheiden, wie er mit seiner Lebensbedrohung umgehen will. Und jeder Sterbenskranke muss typische Einschränkungen, die mit seiner Erkrankung einhergehen, ertragen, zum Beispiel nicht mehr gehen zu können.
Persönliches: Jeder Mensch geht auf seine ganz persönliche Weise mit diesen für das Sterben typischen Erkenntnissen, Aufgaben und Einschränkungen um. Wie der Sterbende damit umgeht, hängt von vielen Faktoren ab. Das sind zum Beispiel seine Persönlichkeit, seine Biographie, seine körperlichen, psychischen, sozialen, finanziellen, religiösen und spirituellen Ressourcen, seine Einstellung zum Leben und zum Sterben, die Art, Schwere und Dauer der Erkrankung, die Therapie mit ihren Nebenwirkungen, die Qualität der ärztlichen Behandlung und der Pflege sowie die Einstellungen, Erwartungen und das Verhalten der Angehörigen, Pflegenden, Ärzte und der Gesellschaft (vgl. Engelke 2015, 63–70).
DER KAMPF GEGEN DEN TOD
Unheilbar erkrankte Menschen kennen in der Regel ihre Lage und sind sich bis auf wenige Ausnahmen ihrer Lebensbedrohung bewusst, ohne dass sie eigens von irgendjemandem darüber aufgeklärt werden müssen. Offen ist, ob sie ihr Wissen mitteilen, wem sie sich anvertrauen, wann und wie sie es tun. Der behandelnde Arzt bestätigt zumeist nur, was die Patienten schon befürchtet haben, ausgenommen bei Zufallsbefunden. Fast immer wird erwartet: Sterbenskranke sollen einsehen, dass sie sterben müssen, und dem zustimmen. Genau das können und tun Sterbenskranke und auch Sterbende aber nicht. Ärzte, Pflegende, Seelsorger und auch Angehörige sollten akzeptieren: Sterbenskranke und auch Sterbende wehren sich für gewöhnlich bis zuletzt gegen ihr Schicksal und hoffen immer noch auf ein Wunder. Sie möchten leben und in ihrem Kampf gegen den Tod begleitet werden. Sie geben ihren Widerstand erst dann auf, wenn sie vom Kampf erschöpft mit ihren Kräften am Ende sind.
Elementare Bedürfnisse dominieren die Sterbenskranken und besetzen ihre Aufmerksamkeit, ihre Interessen und ihre Valenzen. Wenn wir gesund sind, bemerken wir unseren Körper kaum. Das ist anders, wenn unser Körper nicht mehr funktioniert. Atemnot, Schmerzen, Durchfall oder Erbrechen stören und beherrschen uns. Dann sind wir nicht mehr offen für das Schöne und Leichte im Leben. Sterbenskranke kennen nur ein Thema: ihre lebensbedrohliche Erkrankung und den Wunsch zu leben. Sie sprechen fast nur noch von den schlechten Nachrichten, ihrem Protest und Zorn, ihren Schmerzen und Konflikten, ihren Ängsten und Hoffnungen, ihren Verlusten und ihrer Trauer, ihrem Wunsch nach Ruhe und Frieden. Die lebensbedrohliche Erkrankung scheint nicht nur den Körper, sondern auch die Gedanken zu besetzen; sie ist der rote Faden, der sich durch alles zieht. Sterbenskranke sind auf Menschen, die ihnen zuhören, angewiesen.
Der Lebensweg Sterbenskranker ist oft eine einzige Kette von Verlusten. Sie verlieren nach und nach alles, was für sie das Leben ausgemacht hat. Viele kleine Verluste überlagern sich und es gibt kaum Zeit und Raum, ausreichend und angemessen zu trauern – zumal Trauernde und Klagende nicht so gern gesehen sind wie Frohe und Zufriedene. Sterbende und alternde Menschen sind immer auch trauernde Menschen; ihr Trauern unterscheidet sich in der Regel von der (psychiatrischen) Depression. Die Sprache der Sterbenden ist eigen, kreativ und tiefgründig. Sterbenskranke erzählen und äußern sich, indem sie ihr Erleben, ihre Hoffnungen und Ängste mit Bildern, Symbolen, Metaphern und metaphorischen Vergleichen beschreiben. Diese stammen aus ihrem Leben und sind daher biographisch zu entschlüsseln und zu verstehen: Der Schriftsteller verschreibt die letzte Tinte. Der Arzt macht seine letzte Visite.
Die persönlichen Eigenschaften und Verhaltensmuster sowie die Kommunikations- und Beziehungsmuster werden durch die Bedrohung verstärkt: Ruhige Menschen werden zum Beispiel ruhiger, zornige Menschen werden zorniger. Eine lebensbedrohliche Erkrankung schweißt die betroffenen Menschen und ihre Partner nicht automatisch zusammen. Vielmehr gilt: Stabile Beziehungen werden stabiler und zerbrechliche Beziehungen werden zerbrechlicher. In der alten Umgebung (Wohnung, familiales Umfeld usw.) dauern alte Probleme an, potenzieren sich. In einer neuen Umgebung (Krankenhaus, professionelles Umfeld usw.) entstehen neue Probleme, viele alte Probleme bleiben.
Die persönlichen Eigenschaften und Verhaltensmuster werden durch die Bedrohung verstärkt.
DIE AMBIVALENZ VON ANGST UND HOFFNUNG
Jeder von uns empfindet in bestimmten Lebenssituationen Angst. Angst begleitet uns von der Geburt bis zum Tod. Sie gehört zu unserer Existenz und spiegelt unsere Abhängigkeiten. Jeder lebt Angst so, wie sie zu ihm und seiner Persönlichkeit passt. Wir können Angst nicht vermeiden oder ausschalten. Versuche, Angst zu unterdrücken, gelingen auf Dauer nicht. Wir sehnen uns nach einem angstfreien Leben und sind dankbar, wenn uns jemand verspricht, dass er uns unsere Angst nehmen kann. Das gilt insbesondere für unsere Angst vor dem Sterben. Denn die Angst vor dem Sterben spielt eine Schlüsselrolle in unserem Leben, auch wenn sie uns nicht immer bewusst ist. Auch Jesus kannte die Todesangst (Lk 22,39–44). Wir sollten uns bewusst sein: Die boomende Gesundheitsindustrie lebt letztlich von unserer Todesangst.
Unsere Angst kann uns lähmen, sie kann uns aber auch aktivieren. Wir können Gegenkräfte gegen sie entwickeln: Hoffnung, Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Glaube und Liebe. Ängste werden dann am besten überwunden, wenn wir bereit sind, sie uns einzugestehen und auszuhalten, so lange, bis sie abnehmen. Das kann dauern. Die behutsame Begleitung durch jemanden, der jetzt gerade nicht von Angst besetzt ist, kann es erleichtern, Angst auszuhalten. Hoffnung ist eine unserer Grundempfindungen,
konträr zur Angst. Hoffnung ist ein Prinzip unseres Lebens, eine innerliche optimistische Haltung. Wir erwarten, dass etwas Gewünschtes in Zukunft eintritt, ohne dass es gewiss ist. Wir hoffen über den Tag hinaus und träumen von einem besseren Leben.
Hoffnung und Sehnsucht