Am Ende seines Aufenthalts in Manresa ist Ignatius entschieden, ins Heilige Land zu reisen und dort zu bleiben. Dieses Vorhaben, von dessen Sinnhaftigkeit und Konformität mit dem Willen Gottes er überzeugt war, stößt auf unerwartete Schwierigkeiten. In Jerusalem wird er vor die Wahl gestellt, zurückzufahren oder exkommuniziert zu werden. Ignatius, der seinem inneren Impuls gefolgt war, stößt nun auf äußere Grenzen. Sie werden ihm von der Kirche gesetzt.
Die Kirche als Ort, den Willen Gottes zu leben
Ignatius ignoriert diese Grenzen nicht, er rebelliert auch nicht gegen sie, sondern gehorcht. Für ihn ist dieses Hindernis ein äußeres Zeichen dafür, dass es – zumindest jetzt – nicht der Wille Gottes ist, im Heiligen Land zu bleiben. Unter dem Banner Christi zu dienen war für ihn nur in der Kirche vorstellbar. Er erkennt, dass es nicht (mehr) möglich ist, Jesus äußerlich vollständig nachzuahmen. Er muss nun von neuem nach dem Willen Gottes fragen. Ausgehend von seinem Grundanliegen, den Seelen zu helfen, entschließt er sich, dasjenige zu tun, was ihn im Raum der Kirche dazu befähigen soll: Er beginnt zu studieren. Die Frage nach dem Willen Gottes wird ihn weiter begleiten, sie wird ihn an die Universitäten von Alcalá, Salamanca und Paris führen, wird ihn zur prägenden Gestalt einer Gruppe von Gefährten machen. Mit ihnen wird er nach Rom gehen und sich dem Papst für Sendungen zur Verfügung stellen. Auf dem Weg dorthin erfährt er in einer Vision im Kirchlein von La Storta vor den Toren Roms die Bestätigung für den eingeschlagenen Weg: Gott, der Vater, gesellt ihn seinem Sohne zu, und dieser sagt: „Ich will, dass du uns dienst.“ (GGJ 79, Anm. 279)
In der Überlegung der Gefährten, in welcher Weise sie weiter miteinander verbunden bleiben wollen, sehen sie sich auf ihrem Weg von Gott geführt, von ihm durch ein Band miteinander verbunden (GGJ 291–296). Und in dieser Verbundenheit wollen sie auch einem unter sich Gehorsam leisten. Damit ist von ihrer Seite der entscheidende Schritt zur Bildung eines neuen Ordens innerhalb der Kirche geschehen. Es ist aber kein gerader Weg, der Ignatius und die Gefährten dahin geführt hat, eher so, dass sie sich Schritt für Schritt haben führen lassen und dies im Nachhinein als Weg erkennen (vgl. Sa 812; GGJ 820).
Ignatius selbst musste sich mehrfach vor der Inquisition rechtfertigen. Er hat sich nicht gescheut dies zu tun, hat die Klärung z.T. offensiv betrieben. Es lag ihm offenbar daran, im Einklang mit der Kirche zu handeln, weil er überzeugt war, dass in ihr der Geist Gottes am Werke ist: „wir glauben, dass zwischen Christus, unserem Herrn, dem Bräutigam und der Kirche, seiner Braut, der gleiche Geist ist, der uns leitet und lenkt zum Heil unserer Seelen“ (GÜ 365; GGJ 266). Und so hat er auch die Exerzitien vom Papst bestätigen lassen. In ihnen hat er einen Übungsweg dargelegt, der auf seinen Erfahrungen, aber auch auf der Tradition der Kirche beruht, die er in sich aufgenommen und deren Kenntnis er durch das Studium vertieft hat. Nachdem wir gesehen haben, dass sowohl die Frage nach Gott wie die Frage nach seinem Willen im Leben des Ignatius präsent waren, können wir erwarten, dass uns in den Exerzitien beide Fragerichtungen begegnen.
Die Erfahrungen des Ignatius in den Exerzitien
Ziel der Exerzitien ist es, „den göttlichen Willen in der Einstellung des eigenen Lebens zum Heil der Seele zu suchen und zu finden“ (GÜ 1; GGJ 92). Wie aber soll dies gelingen? Offensichtlich stehen im Menschen beträchtliche Hindernisse entgegen. Ignatius nennt sie „ungeordnete Anhänglichkeiten“. Der Name Exerzitien (= Übungen) lässt an ein gezieltes Bemühen von Seiten des Menschen denken, auch die Überschrift (GÜ 21; GGJ 108) gibt als Ziel an, „über sich selbst zu siegen und sein Leben zu ordnen“. Es scheint so, als ob es in den Exerzitien v.a. oder sogar ausschließlich um das Erkennen und Tun des Willens Gottes ginge. Ein solches Verständnis greift aber zu kurz. Die Exerzitien lassen ausführlich das Tun Gottes betrachten, das dem eigenen Tun und Können voraus geht. Schon in der Ersten Woche, in der es um die Betrachtung der Sünde – oder genauer: die Betrachtung der Barmherzigkeit Gottes angesichts der Sünde – geht, lässt Ignatius am Ende jeder einzelnen Gebetszeit Jesus am Kreuze betrachten und fragen, „wie er als Schöpfer gekommen ist, Mensch zu werden, und von ewigem Leben zu zeitlichem Tod, und so für meine Sünden zu sterben“ (GÜ 53; GGJ 128). Von diesem Hintergrund her befragt sich dann der/die Exerzitant(in), was er/sie für Christus getan hat, für ihn tut und tun solle.
Im Prolog zur Zweiten Woche, der „Betrachtung vom Ruf des Königs“ (GÜ 91– 100; GGJ 144–146), steht Christus im Bild eines idealen Königs vor Augen, der für seinen Kampf Mitstreiter sucht. Indem der/die Exerzitant(in) auf Jesus Christus schaut und eine innere Erkenntnis des Herrn gewinnt, wird seine/ihre Liebe geweckt und die Bereitschaft, ihm zu folgen. Dies ist nicht durch das Bemühen des Menschen allein erreichbar, es muss vielmehr erbeten werden: „Innere Erkenntnis des Herrn erbitten (…), damit ich mehr ihn liebe und ihm nachfolge.“ (GÜ 104; GGJ 148) Es bedarf dazu der Offenheit auf der Ebene des Gedächtnisses, des Verstandes und des Willens. Mit dieser Aufzählung der Seelenkräfte, die Ignatius aus der Tradition übernimmt, ist der Mensch in seiner Ganzheit gemeint. Schon allein diese Ganzheit kann er nicht durch einseitig rational planendes Bemühen erreichen.
Die Gesamtausrichtung des Lebens führt den Mensch in den Exerzitien hin zu Entscheidungen über sein Leben. Diese geschehen nicht im angestrengten Nachdenken. Nach Ignatius werden wir vielmehr „indem wir zugleich sein (= Jesu Christi) Leben betrachten, zu erkunden und zu erbitten beginnen, in welchem Leben oder Stand seine göttliche Majestät sich unser bedienen will“ (GÜ 135; GGJ 160). Die Entscheidung ist zugleich eine Erwählung, in der Gott die entsprechende Neigung dem Menschen in den Willen legt und als das Bessere erscheinen lässt. „Es soll (…) also der Wunsch, besser Gott unserem Herrn dienen zu können“ (GÜ 155; GGJ 167–168), der entscheidende Beweggrund sein. Es verschränken sich demnach die beiden Blickrichtungen: einerseits auf Jesus Christus schauen, eine innere Erkenntnis seiner Person, in der Gott aufleuchtet, gewinnen und anderseits den Willen Gottes erkennen, um ihn dann zu erfüllen. Wie dies geschehen kann, dafür ist der Vergleich mit einer tiefen Beziehung zu einem anderen Menschen hilfreich. Im Rahmen einer solchen Beziehung habe ich ein Gespür dafür, was die Beziehung fördert und was sie stört. Voraussetzung dafür ist, dass ich den anderen kennen gelernt habe. In einer solchen Freundschaft wird es manchmal ganz klar sein, was getan werden muss. Zu anderen Zeiten wird es ein kreatives Eingehen auf den Anderen geben können, ihn z.B. mit einem passenden Geschenk zu überraschen. So gibt es im Umgang miteinander eine ganze Bandbreite von der klar erkannten Notwendigkeit bis hin zu einer weitgehenden Kreativität. Ebenso wird die Erfahrung von beglückenden Momenten gegenseitiger Nähe bis zur Erfahrung der Fremdheit