Im Übungsweg der Exerzitien ist die zweite Woche der Ort, um die eigenen Berufung zu suchen und zu finden. Dieses „Suchen und Finden des Willens Gottes“, d.h. die Entdeckung der eigenen Berufung, geschieht nach Franz Meures idealtypisch so: In Verbindung mit der Betrachtung des Lebens Jesu kommt im betenden Menschen ein Klärungsprozess in Gang, in dem er „aus einer persönlichen Vertrautheit mit Christus heraus die von ihm erlebten inneren und äußeren Bewegungen und Antriebe daraufhin überprüft, ob sie mehr zu Gott hinführen oder eher von ihm weg, um so zu Entscheidungen fähig zu werden, welchen Weg er vor Gott gehen soll“.4
Es geht in der zweiten Exerzitienwoche also darum, sich auf den Weg Jesu zu machen, in den täglichen Betrachtungen gleichsam zusammen mit ihm durch sein (i.e.: Jesu) Leben zu gehen, und die für das eigene Leben bestimmende Gestalt der Nachfolge Jesu – die eigene Berufung – zu finden. Inhaltlich steht neben der zentralen Betrachtung vom „Ruf des Königs“ das Leben Jesu von der Menschwerdung bis zum Einzug nach Jerusalem im Mittelpunkt. Die für die 30-tägigen Exerzitien entscheidenden Betrachtungen über die Wahl einer Lebensform liegen in der Mitte der zweiten Woche.
Mit der Wahl einer Lebensform oder dem Blick auf die Neugestaltung des bisherigen Lebens sind die Exerzitien aber noch nicht zu Ende. Für einen glaubenden Menschen wird die Ordnung oder Neuordnung seines Lebens hineingenommen in das zentrale Geheimnis des Lebens Jesu, um von dort seine weitere Bestätigung und Vertiefung zu finden: in das Geheimnis von Tod und Auferstehung. Darum geht es in der dritten und vierten Exerzitienwoche.
Die dritte Woche ist inhaltlich bestimmt durch die Betrachtung des „für mich“ leidenden und sterbenden Christus. Diese Übungen dienen – idealtypisch – der Vertiefung und Festigung der in der zweiten Woche getroffenen Lebenswahl. Kreuz und Leid, im Licht der Auferstehung betrachtet, schenken Kraft zum Annehmen und damit zum Verändern, zur Heilung und Fruchtbarkeit. In der vierten Woche werden die Geheimnisse der Auferstehung und Himmelfahrt Christi meditiert. Diese Woche bildet den hellen Abschluss des Weges, den der/die Beter(in) im Auf und Ab der eigenen inneren Bewegungen zurückgelegt hat.
Ist es nun das Bessere, mit Blick auf den gekreuzigten und auferstandenen Herrn stets die verzichtvollere und schmerzvollere Alternative zu wählen? In der spirituellen Tradition wurde diese Frage oft bejaht. Bisweilen sprach man von der „Kreuzesliebe“, wo es doch eigentlich um die Liebe zum Gekreuzigten geht. Kiechle zeigt in einer Analyse des Exerzitienbuches, dass in den Texten zur Lebenswahl das Kreuz nicht vorkommt. Man soll keineswegs das Schwerere und Endsagungsvollere wählen. Kriterien für Ignatius sind ausschließlich „Trost“ und „Frucht“.5
Trost – so Kiechle – ist zu verstehen als ein „Leben in Fülle“ in Beziehung mit sich, mit den Menschen und mit Gott, eine innere Zufriedenheit und Kohärenz. Das zweite Kriterium einer guten Lebenswahl, „Frucht“, meint alles, was den Menschen in Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen lässt. Diese beiden Kriterien durchdringen sich gegenseitig: Was mir zu Trost und Wachstum verhilft, wird auch für andere fruchtbar sein und umgekehrt. Bei mehreren guten Alternativen ist für Ignatius das wichtigste Kriterium das magis: Was lässt mehr Trost und Frucht erwarten?
Allein um des Reiches Gottes, also um etwas Gutes willen, folgten die Jünger Jesus nach: „Das Kreuz soll man ‚nur‘ zu tragen bereit sein – wenn Gott es so will.“6 Bei einer Lebensentscheidung intendiert man nicht Leiden und Verzicht, aber man ist bereit, es zu ertragen, wenn es auf einen zukommt. Auch Jesus am Ölberg hat das Kreuz nicht angestrebt, sondern im Gegenteil Gott gebeten, diesen Kelch an ihm vorübergehen zu lassen, allerdings mit dem Zusatz: „aber nicht, was ich will, sondern was Du willst, soll geschehen“ (Mk 14,36 parr).
Ein in der Nachfolge Jesu zugemutetes Kreuz kann, wenn es angenommen wird, eine große Kraft entfalten. Dafür ist das Kreuz Christi das beste Beispiel. Aber wenn ein zugemutetes Kreuz im Ganzen und auf die Dauer nur lähmt und quält und Leben abtötet, dann ist es nicht heilbringend, sondern zerstörerisch. Man wird es bekämpfen oder wenigstens ihm ausweichen müssen.
Veränderung einer „unveränderbaren“ Berufung?
Was aber, wenn eine Situation unerträglich geworden ist und vielleicht auch die Menschenwürde beschädigt oder die Gerechtigkeit massiv verletzt wurde? Wenn die eigene Identität sich so massiv verändert hat, dass der andere, um in der Bindung zu bleiben, seine Identität massiv verbiegen müsste? Was für Paare gilt, trifft analog auch für einzelne Ordensangehörige im Bezug auf ihre Gemeinschaft zu.
Die Entscheidung, die seinerzeit eine wertorientierte Lebensform getragen hat, kann in einer veränderten Situation nicht mehr gelebt werden. Nach gründlicher und ehrlicher Prüfung stellt jemand fest: Obwohl er sich redlich gemüht hat, sein „Kreuz zu tragen“, erweist sich die getroffene Lebenswahl im Ganzen und auf die Dauer als trostlos und unfruchtbar.
Was wären für solche Krisensituationen die Kriterien, die zur Klarheit verhelfen, ob und wann eine bereits getroffene Lebenswahl sinnvollerweise revidiert werden darf oder sogar muss? Was spricht für die Echtheit einer neuen Berufung und wie unterscheidet sie sich von einer Neuorientierung, die nur aus einem Affekt heraus oder aus subjektiv erlebter Trostlosigkeit getroffen wurde?
Kiechle weist darauf hin: „Hat man früher aus einem traditionellen Ordensdenken heraus allzu oft ein starres Beharren im Gewählten gefordert, was bisweilen, eben weil zerbrochene Beziehungen nicht gelöst wurden, zu unsäglichem Leiden führte, so neigt man heute im Gegenteil dazu, allzu schnell die eingegangenen Bindungen zu lösen, ohne ausreichend zu bedenken, welchen Schaden und welche Verletzungen zerbrochene Beziehungen bewirken können“.7 Ganz ähnlich argumentiert Josef Schuster: „Eine einmal getroffene Lebensentscheidung kann sich im Laufe der Zeit als ein Irrtum herausstellen, der verschuldet oder unverschuldet sein kann. Wenn eine solche Entscheidung nicht mehr ‚saniert‘ werden kann, dann sollte sie auch revidiert werden können.“8
Sich vor Gott die Frage nach einer neuen Berufung zu stellen und sich dabei an den Kriterien von „Trost“ und „Frucht“ zu orientieren, ist also etwas ziemlich anderes und mehr als nur die Güterabwägung zwischen zwei Übeln mit dem Ziel, das geringere zu wählen. Denn was eine Berufung wirklich ist, begreift man eigentlich erst, wenn man erfasst, dass es dabei um die Beziehung zu Gott geht. Vertieft eine neue Lebenswahl die Beziehung zu Gott oder führt sie zu einer Verflachung? Lässt sie einen Menschen in Glaube, Hoffnung und Liebe wachsen? Eine neue Berufung wird ohne echte Sehnsucht danach wohl kaum geschenkt werden. Michel de Certeau SJ macht darauf aufmerksam, dass die ignatianische Vorgehensweise diese Sehnsucht erfordert, also dass jemand, der vor einer Lebensentscheidung steht und seine einmalige und einzigartige Berufung sucht und dazu Exerzitien machen möchte, wirklich von einer Sehnsucht auf der Suche nach der zu fällenden Entscheidung getrieben wird. Die Funktion des „Prinzips und Fundaments“ der Exerzitien besteht darin, dem „Sehnen einen Raum zu eröffnen“.9
Das Gegenteil wäre: Es könnte ja sein, dass jemand auf dem Standpunkt stünde: „Ich suche mal nach dem Willen Gottes, und wenn ich ihn dann gefunden habe, dann schaue ich noch mal neu, ob er mir passt und ob ich ihn dann realisieren will.“ So ein Vorgehen wäre Spielerei. Mit dem Suchen muss auch der Wunsch verbunden sein, das Gefundene dann zu realisieren. In der Phase des Exerzitienprozesses, in der jemand seine Berufung sucht, ist – idealtypisch – das eigene persönliche Gottesbild soweit gereinigt und geklärt, dass jemanden die Frage nach seiner Berufung nicht – nur – in Angst und Schrecken versetzt, sondern dass ihn das Verlangen