Stirnimann geht in Übereinstimmung mit dem Germanisten Kurt Ruh (1914–2002) davon aus, dass die ältere Version aus einer Prosaversion hervorgegangen sei.8 Ernst Ludwig Rochholz (1809–1892)9 verwies bereits 1875 auf die inhaltliche Nähe des Bruder-Klausen-Gebets zu Heinrich Seuse (1295/7–1366): „Ich gebe mich dir und nehme dich mir und vereine dich mit mir; du verlierst dich und wirst in mich verwandelt.“10 Dieser Satz findet sich im Büchlein der ewigen Wahrheit (Kap. 23), das vom Altarssakrament handelt, einem Thema, das Bruder Klaus besonders beschäftigte. Bei Seuse steht dieser Satz unmittelbar vor dem Diktum des Augustinus (gest. 354): „Nec tu me in te mutabis (…), sed tu mutaberis in me.“11 Ein schlüssiger Beweis, dass das Gebet von Bruder Klaus auf den direkten Einfluss eines älteren Textes zurückzuführen ist, liegt allerdings nicht vor.
Der absolute Anspruch
Bedeutsamer als diese letztlich nicht klärbare Frage eines direkten Einflusses ist m.E., dass in diesem Gebet eine völlige Hin- und Übergabe, ein absoluter Anspruch auf Vereinigung mit dem göttlichen Du angesprochen ist. Im Bruder-Klausen-Gebet (und im Zitat Seuses) gibt es, ganz im Sinne des platonischen Weltbildes, nur zwei Pole: das eigene Ich und das absolute Du Gottes.12 Die absolute Übergabe an den Anfang des Gebets zu stellen, lässt erahnen, dass dieser Anspruch möglicherweise zu hoch ist. Tatsächlich entspricht diese Reihenfolge der persönlichen schmerzhaften Erfahrung des späteren Ranfteremiten. Am Anfang seines eremitischen Weges steht nämlich ein existenzielles Scheitern. Dazu gehört, dass er vor seinem Weggang Visionen erlebte, die ihn beunruhigten, die er damals aber nicht verstand. Er wusste, was Gott von ihm wollte. Er war deshalb überzeugt, dass diese verstörenden Erfahrungen Versuchungen des Teufels waren, denen es zu widerstehen galt. Eine Stimme aus der Wolke lachte ihn aus, so könne er Gott nicht gewinnen; drei Edelleute machten sich über seinen Anspruch, ganz Gott zu gehören, lustig, und andere visionäre Erfahrungen mehr. Entspricht sein damaliges Verständnis seiner ersten, so absolut formulierten Bitte: nim mych min und gib mych ganz zuo aigen dir?
Als Niklaus von Flüe um 1465 alle politischen Ämter niederlegte, waren die beiden nächsten Jahre, gemäß seinen eigenen Aussagen, geprägt von Depressionen, Zweifeln und Phasen der Niedergeschlagenheit. In dieser Zeit suchte er den Rat seines priesterlichen Freundes Heinrich Amgrund, der ihm zu regelmäßigen Betrachtungsübungen riet. Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass in diesen Jahren der langjährige Konflikt zwischen dem erfolgreichen äußeren Lebensweg als Ehemann, Vater, Bauer und Ratsherr und dem inneren Lebensweg als Gottsucher, Fastender und Beter zu einem geradezu gewaltsamen Ausbruch kam und nach einer definitiven Lösung verlangte. Am 16. Oktober 1467 verließ er daher die Familie in der Absicht, als Pilger sein Seelenheil im ellend, im Ausland, zu suchen. Das genaue Ziel kennen wir nicht. Hingegen betonte er selbst, dass seine Frau und seine Kinder – dabei ist an die ältesten Söhne zu denken – mit diesem Schritt einverstanden waren. Heute ist breit anerkannt, dass dieser neue Lebensweg ohne das Einverständnis seiner Frau Dorothee Wyss (die Frauen behielten damals ihren Familiennamen) nicht denkbar gewesen wäre. Wie vor einer langen und ungewissen Pilgerreise üblich, ordnete er den Nachlass und vertraute Hof und Familie den erwachsenen Söhnen an.
Sein Weg führte ihn nach Liestal, heute der Hauptort des Schweizer Kantons Baselland, wo er eine existenzielle Krise durchlebte, die seine Pläne zunichtemachte und ihn vorzeitig zur Rückkehr zwang. Von diesem Tiefpunkt seines Lebens wissen wir mit erstaunlicher Ausführlichkeit, weil er selbst darüber sprach. Nach Gesprächen mit seinem Beichtvater, der den verunsicherten und zutiefst erschrockenen Mann beruhigen konnte, und von Visionen geleitet, ließ er sich schließlich im Ranft nieder, einer nur wenige 100 Meter von seinem Wohnhaus entfernt gelegenen Hangterrasse. Hier hatte er schon als Jüngling von seinem inneren Drang nach einem Leben in der Abgeschiedenheit erfahren und sich immer wieder zum Gebet zurückgezogen. Diesen vertrauten Ort wählte er nach jenem schmachvollen und schmerzhaften Umweg für sein Leben in der Abgeschiedenheit. Freunde bauten ihm eine Kapelle und eine Klause. Einen Großteil des Tages widmete Bruder Klaus, wie er sich nun nannte, der Betrachtung und dem Gebet.
Die mystischere Version oder der dreistufige Weg
Gerade wegen ihres biographischen Bezugs könnte die ältere Version als die stärkere und fundamentalere gelten, durchgesetzt hat sich über die Zeit jedoch die jüngere Version. Diese Fassung findet sich erstmals bei Adam Walasser († 1581), der 1569 den Pilgertraktat von 1488 samt einigen Zusätzen in Dillingen an der Donau (Bayern) neu herausgab.13 In dieser seither nur wenig veränderten Fassung fehlt das Bruder-Klausen-Gebet als Zitat, als gestaltetes Wortelement oder auf Kerzen und anderen Kultgegenständen in keiner der über 200 ihm weltweit geweihten Kirchen und Kapellen. Die hohe Wertschätzung für dieses kurze, einprägsame Gebet wird auch daraus ersichtlich, dass es Eingang in den katholischen Weltkatechismus gefunden hat und als Nr. 226 im ersten Teil zitiert wird, wo es um den Glauben an den einzigen Gott geht, in prominenter Nachbarschaft von Teresa von Avilas Nada te turbe (Nr. 227).14
In seinem Aufbau entspricht das Gebet nun dem dreistufigen Weg der Mystik:15 Die erste Bitte entspricht der Stufe der Reinigung („Nimm alles von mir“). Sie gehört zum anfangenden Menschen und geschieht auf dreifache Weise: Reue und Läuterung von den Sünden, Beichte und vollkommene Buße. Der Mensch muss sich von all dem lösen, das von ihm selbst ist. Davon sprach Johannes Tauler (um 1300–1361), als er schrieb, jeder Ausgang sei der Ausgang aus sich selber und jeder Eingang sei ein Eingang zu Gott.
Die zweite Bitte entspricht der Stufe der Erleuchtung („Gib alles mir“). Sie gehört zum zunehmenden Menschen und geschieht ebenfalls auf dreifache Weise: Verschmähung der Sünde, Verwirklichung der Tugend und guter Werke und ein williges Erleiden aller Anfechtungen und Widerwärtigkeiten. Es ist der Mensch, der nichts für sich will und darum auch das Missgeschick annehmen kann. Ihm genügt, was Gott für ihn will.
Die dritte Bitte entspricht der Stufe der Vereinigung („Nimm mich mir und gib mich ganz zu Eigen Dir“). Sie gehört zum vollkommenen Menschen und äußert sich auf folgende Weise: Reinheit und Lauterkeit des Herzens in göttlicher Liebe und in der Beschauung Gottes des Schöpfers in allen Dingen. Der vollkommene Mensch, der sich von seiner Ichbezogenheit gelöst hat, wird fähig, die ihn umgebende Welt nicht länger als Objekt seiner selbst, sondern als Schöpfung Gottes und darin Gott selbst zu erkennen.
Der kürzlich verstorbene Kapuziner und Autor Anton Rotzetter (1939–2016) ist allerdings der Meinung, dass diese der Überlieferung gemäß jüngere Version dennoch die richtige und deshalb ältere sei, da sie dem Aufstiegsschemata der abendländischen Mystik entspreche. Seine Version des Gebets lautet so:16
Via purgativa: Reinigung
O mein Gott und mein Herr
nimm alles von mir
Das mich hindert gegen Dich!
Via illuminative: Erleuchtung
O mein Gott und mein Herr
gib alles mir
Das mich fördert zu Dir!
Via unitiva: Einigung
O mein Gott und mein Herr
nimm mich mir
Und gib mich ganz zu eigen Dir!
Anerkennung oder Anruf Gottes?
Ob jünger oder älter, authentischer oder weniger authentisch, sicherlich entspricht diese jüngere Version unserer Logik und erhält eine Harmonie, welche der älteren Fassung abgeht.17 Diese bewahrt sich dafür eine gewisse Sperrigkeit, die auch dem Ranfteremiten selber eigen ist. Zwar war Rupert Amschwand (1916–1997) überzeugt, dass die Zukunft der älteren Version gehöre, da sie eine höhere Gebetsintensität aufweise,18 durchgesetzt hat sich aber diese mystischere Fassung. Und mit der Aufnahme in den Weltkatechismus liegt das Gebet in einer Fassung vor, die in allen übrigen Kultursprachen maßgebend werden dürfte.
Aufmerksame Leser(innen) haben jedoch sicherlich bemerkt, dass Rotzetter eine