»Klaro«, gab Lutz zurück und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Sie näherten sich wieder dem Kinderwagen. Fritz schien noch immer tief und fest zu schlafen. Während Lutz sein Fahrrad ergriff, warf Mathilda einen flüchtigen Blick in den Kinderwagen. Sie erstarrte! Hastig trat sie einen Schritt näher.
»Lutz! Mein Gott! Fritz ist weg!« Ihr Aufschrei war so entsetzt, dass der Junge sein Rad fallen ließ und schnell neben sie trat. Tatsächlich, der Kinderwagen war leer! Darin befand sich nur noch die überzogene Matratze.
Mit irrem Blick suchte Mathilda die nächste Umgebung des Kinderwagens ab. Vielleicht war Fritz irgendwie herausgefallen. Weit und breit war von dem kleinen Jungen aber nichts zu sehen. In völliger Verzweiflung rannte das Mädchen um den Wagen herum und suchte die nächste Umgebung ab.
»Das gibt es doch nicht!«, schrie sie mit sich überschlagender Stimme. »Gerade war er doch noch da!« Tränen schossen ihr in die Augen. »Wo kann er denn sein?« Sie versuchte, die mittlerweile eingetretene Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen.
»Wir müssen deine Eltern verständigen!« Lutz wusste ihr im Augenblick auch nicht anders zu helfen, er hatte das dumpfe Gefühl, dass hier etwas sehr Schlimmes geschehen war. Mathilda wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, dann griff sie zum Handy. Plötzlich kam ihr eine Idee und schlagartig erschien ein zorniger Gesichtsausdruck auf ihrer Miene. Lutz sah sie verwundert an. Sie machte ihm ein abwartendes Zeichen mit der Hand und wählte. Einen Moment später ging offenbar ihre Mutter ans Telefon.
»Hallo Mama, das finde ich überhaupt nicht lustig!« Offenbar kam eine erstaunte Gegenreaktion, denn sie fuhr fort: »Ich war nur ein paar Meter von Fritz entfernt und er hat tief und fest geschlafen. Du kannst ihn doch nicht so einfach mitnehmen, nur um mich zu erschrecken!«
Die jetzige Gegenrede dauerte etwas länger und war so laut, dass Lutz einige Worte verstehen konnte. Mathildas Mutter sprach sehr erregt und machte deutlich klar, dass sie gar nicht wusste, wovon ihre Tochter sprach.
»Mama«, erwiderte das Mädchen wieder völlig betroffen, »Fritz ist nicht mehr da. Der Kinderwagen ist leer.« Schluchzend fuhr sie fort: »Ich kann doch nichts dafür. Ich weiß nicht, was ich machen soll!«
Die Antwort war kurz und knapp, dann war das Gespräch unterbrochen. Lutz nahm das weinende Mädchen in den Arm. Er war mit dieser Situation völlig überfordert.
»Was wird jetzt?«, fragte er schließlich leise.
»Mama und Papa sind schon auf dem Weg hierher«, gab sie mit zitternder Stimme zurück. »Bleibst du bitte bei mir?«
Lutz war klar, dass es gleich gewaltigen Ärger geben würde. Aber er war kein Feigling. Selbstverständlich würde er Mathilda zur Seite stehen.
Das Auto von Agnes und Willi Hallhuber raste mit Hochgeschwindigkeit die Straße entlang, die zum Kinderspielplatz führte. Als die beiden Scheinwerfer Mathilda aus dem Dunkel schälten, bremste der Wagen ab. Mit laufendem Motor blieb das Auto stehen und die beiden Eheleute stürtzten heraus. Mit einer Mischung aus Zorn und Sorge eilten sie auf Mathilda und Lutz zu.
»Mama, Papa, ich kann wirklich nichts dazu!«, rief ihnen ihre Tochter beschwörend entgegen. »Lutz, mein Freund hier, kann das bestätigen.«
Der Junge nickte zustimmend.
Die Eheleute starrten in den leeren Kinderwagen.
»Mathilda, wie konntest du so unzuverlässig sein und den Kleinen alleine lassen!«, schrie ihre Mutter völlig entnervt. »… und du hast auch nichts Besseres zu tun, als sie von ihren Pflichten abzulenken!«, fauchte sie in Lutz’ Richtung.
Lutz schnappte nach Luft und wollte eine Erklärung abgeben, aber da trat Herr Hallhuber nach vorne, nahm seine Frau in den Arm und bat, sichtlich um Beherrschung bemüht: »Junge, bitte in Kurzform, was ist passiert?«
Sich gegenseitig ergänzend, schilderten Mathilda und Lutz den Ablauf des Abends, wobei sie allerdings in stillem Einverständnis einige intime Details ausließen. Als die beiden verstummten, machte Mathildas Vater eine resignierende Handbewegung. Ohne den Bericht in irgendeiner Form zu kommentieren, erklärte er mit rauer Stimme: »Dann werden wir wohl die Polizei verständigen müssen. Wie es aussieht, wurde unser Fritzchen entführt.« Er griff zum Mobiltelefon.
Während er wählte, kam ein lautes schmerzhaftes Aufheulen von Frau Hallhuber. Zunächst sah es so aus, als würde sie zusammenbrechen, doch dann stürzte sich die Frau schreiend und mit erhobenen Fäusten auf ihre Tochter und trommelte verzweifelt auf sie ein. Mathilda hob schützend ihre Arme über den Kopf, dann flüchtete sie sich in Lutz’ Arme. Der Junge hatte alle Mühe, das Mädchen vor der Attacke ihrer Mutter zu schützen.
Eine Viertelstunde später näherte sich ein Streifenwagen mit Blaulicht und Sirene. Die beiden Streifenbeamten kamen mit Taschenlampen in den Händen auf die Wartenden zu. Kurz darauf ging ein Funkspruch an die Einsatzzentrale, mit dem die Streifenbeamten die Spezialisten von der Kriminalpolizei anforderten.
Die Entführung von Baby Fritz ging wie ein Lauffeuer durch alle Medien der Bundesrepublik. Die verzweifelten Eltern starteten Aufrufe im Fernsehen und appellierten an die Entführer, sie mögen ihnen doch ihre Forderungen nennen, sie wären bereit alles zu tun, um ihr Kind gesund zurückzubekommen.
Tagelang wurde das Waldstück, wo die Entführung stattgefunden hatte, mit Hunden und Suchketten der Bereitschaftspolizei durchkämmt. Die Telefonleitung der Hallhubers überwachte man mit einer Fangschaltung, falls sich die Entführer meldeten. Parallel wurden das Umfeld von Lutz und auch das Familienleben der Hallhubers durchleuchtet, da man ja nie ausschließen konnte, dass die Eltern in die Sache verstrickt waren. Die eingerichtete Sonderkommission »Baby Fritz« sondierte alle eingehenden Hinweise aus der Bevölkerung, die aber zu keinem Ergebnis führten.
Nach zwei Wochen ließ die Hoffnung, das Kind gesund wiederzufinden, merklich nach. Von den Entführern meldete sich niemand. Mit jedem Tag, der erfolglos verging, wurde den Polizisten immer klarer, dass die Aussicht, das Kind lebend wiederzufinden, immer mehr gegen null tendierte. Alle anderen Ermittlungsansätze verliefen ebenfalls im Sand. Die Sonderkommission wurde zwar noch aufrechterhalten, personell aber stark heruntergefahren. Das Verschwinden von Fritz wurde in die Reihe der Entführungsfälle eingeordnet, die ein Rätsel blieben. Auch die Presse wandte sich aktuelleren Themen zu.
Es war fast fünf Uhr morgens. Jetzt im Frühling würde es noch gut zwei Stunden dauern, bis die Sonne aufging. Der Mann parkte den dunkelgrauen Mercedes auf der Stellfläche vor seiner Garage, da er um diese Uhrzeit keinen unnötigen Lärm veranstalten wollte. Die Tür drückte er mit einer energischen Bewegung des Knies zu. Fast lautlos rastete das Schloss des Oberklassenfahrzeugs ein. Die Begrenzungsleuchten des Wagens blinkten mehrmals hektisch auf, als er mit der Fernbedienung abschloss.
Den dunkelfarbenen Renault Kangoo auf einem Stellplatz zwischen zwei frisch gepflanzten Kastanienbäumen am Rande der neu gebauten Straße, ein Stück von seinem Haus entfernt, bemerkte er nicht. Diese Straße durchlief das Würzburger Neubaugebiet Am Hubland, ehemals Gelände der US-Armee, und sollte nach den Vorstellungen der Städteplaner zukünftig beiderseits von Einfamilien- und Reihenhäusern gesäumt werden. Im Augenblick gab es noch zahlreiche verwilderte Baulücken, die, aber schon mit farbigen Vermessungspflöcken versehen, die geplanten Parzellierungen erkennen ließen.
Der Mann, eine Sporttasche schlenkernd, näherte sich lockeren Schrittes dem Einfamilienhaus, das zu beiden Seiten durch jeweils drei leerstehende Bauplätze von den nächstliegenden fertiggestellten und bewohnten Häusern getrennt war. Er verzog verärgert das Gesicht, als eine der Steinplatten des Weges unter seinen Füßen leicht wackelte. Gleich morgen früh würde er die Firma anrufen und den Mangel reklamieren.
Das Haus lag in völliger Dunkelheit, da eine tiefhängende Wolkendecke das Mondlicht verfinsterte