Wenngleich durch die Beiträge kein Anspruch auf ein allumfassendes Bild erhoben werden kann, gelingt doch eine vielgestaltige Bestandsaufnahme, die den Blick auf das Subjekt und zugleich Objekt des Fragens richtet, nämlich Jugendliche und ihre Berufung in der Welt von heute.
1 Vorbereitungsdokument zur XV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode „Die Jugendlichen, der Glaube, die Berufungsentscheidung“ vom 13.1.2017: http://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2017/01/13/0021/00050.html [Zugriff am 26. Februar 2018].
2 Ebd.
3 Vgl. den Titel des Beitrags von Jan Loffeld in diesem Band, S. 79.
4 Vorbereitungsdokument zur XV. Ordentlichen Generalversammlung (wie Anm. 1).
5 Ebd.
6 Ebd.
7 Das Zutreffen dieser These für Deutschland zeigt das Antwortschreiben der Deutschen Bischofskonferenz anlässlich der XV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode „Jugend, Glaube und Berufungsunterscheidung “ (= Pressemitteilungen der DBK 184a) vom 3.11.2017.
Zwischen Wandervogel und Weltjugendtag
Das 20. Jahrhundert oder wie die Katholiken die Jugend entdeckten
Florian Bock
Eine zentrale These des vorliegenden Sammelbandes lautet: „Man ‚ist‘ nicht einfach Christ, sondern ‚wird‘ es immer wieder neu.“ Dieser Denkfigur kann sich die Kirchengeschichte als theologische Disziplin, die sich mit dem historischen Gewordensein des christlichen Glaubens beschäftigt, ohne weiteres anschließen. Während die Pädagogik und die allgemeine Geschichtswissenschaft das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert des Kindes diskutieren1, entdeckten die Katholiken die Jugend vor allem im 20. Jahrhundert. Die innerkirchlichen Ursachen dafür, stets eingebettet in gesamtgesellschaftliche Transformationen, werden auf den nächsten Seiten entfaltet. Insofern ist der Beitrag auch als Momentaufnahme innerhalb eines offenen Prozesses zu verstehen, der keineswegs schon beendet, sondern vielmehr im stetigen Fluss ist.
1. Katholische Jugendbewegung um 1900 oder: back to the roots
Der Begriff der Jugend ist, trotz biblischer Hinweise (Gen 8,21), relativ neu und umfasst – soziologisch ausgedrückt – den Übergang ins Erwachsenenalter.2 Katholischerseits drückte sich dieses liminale Ritual zuvor lange Zeit in der Erstkommunion aus, die den Übergang von Kindheit ins Erwachsensein definierte. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war mit der Erstkommunion (inklusive Kommunionanzug und -uhr) auch die Schulzeit beendet, am Tag darauf begann das nun vollwertige Kirchenmitglied seine Lehre.3 Dies änderte sich spätestens ab den 1830er-Jahren. Durch Urbanisierung, verbesserte Ernährung und differenziertere medizinische Versorgung kam es in ganz Europa zu einer wahren Bevölkerungsexplosion, wovon auch die jüngere Generation betroffen war. Das Lebensstadium der Kindheit wurde nun auf eine längere Ausbildungszeit ausgedehnt und rief spätestens ab der Jahrhundertwende u. a. so genannte Reformpädagogen auf den Plan, die sich nun verstärkt mit den ‚Jugendlichen‘ befassten. Was den Anhängern jener Lebensreform, die Schülern höherer Lehranstalten mit der Bewegung Wandervogel4 ein Forum bot, vorschwebte, war neben Zivilisationskritik und Landflucht eine Abkehr von jedweder politischen Aktivität: „Die Jugendbewegung kann sich an programmatisch fixierte Staatsbegriffe nicht innerlich gebunden fühlen, weder an Republik noch an Monarchie. Sie trägt ein Wesensbild vom organisch gegliederten Volksstaate in sich. Weder Bismarcksche noch Weimarer Verfassung wie wir sie bisher kennen lernten, deckt sich mit ihm. Und es kann gar nicht entschieden werden, ob eine Republik oder eine […] Monarchie jenes Wesensbild verwirklichen, verkörpern kann. Die Jugendbewegung kann sich hier nicht festlegen.“5 Ihre Kernidee war die Erziehung von Gleichaltrigen durch Gleichaltrige in einer Gruppe auf gemeinsamen Wanderfahrten und Naturerlebnissen „nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit“, wie es die sogenannte Meißnerformel von 1913 formulierte6, – und zwar nicht nur durch Alkohol- und Nikotinfreiheit, sondern in völliger Abkehr von dem materialistischen ‚Moloch‘ Großstadt und der damit einhergehenden Lebensform des Profitdenkens.7 Die bekannte Lagerfeuer-Romantik hat hier ihren Ursprung, ebenso neue Vergemeinschaftungsformen wie Gruppenspiele, die spätestens ab 1933 die Nationalsozialisten ungeniert für Hitler-Jugend (HJ) und Bund Deutscher Mädel (BDM) übernehmen werden.8
Solche Transformationsprozesse gingen selbstverständlich nicht unberührt an der gesellschaftlichen Großgruppe der Katholiken vorüber.9 Der Milieukatholizismus, also jenes für den Kulturkampf und die erste Hälfte des 20. Jahrhundert so dichte Netzwerk an Vereinen und Verbänden, entdeckte die Jugend. Doch statt einer Mitgliedschaft in Kolpingvereinen für unverheiratete Gesellen oder in frommen Kongregationen versuchten vor allem jüngere Kapläne katholische Jugendliche für Jugendvereine wie den 1909 gegründeten Quickborn zu gewinnen. Ein erfolgreich rekrutierter Zeitzeuge erinnert sich: „Der Sonntagnachmittag war nicht nur durch Christenlehre und Andacht, sondern durch Versammlungen im Jugendheim – oder während der Sommermonate – durch Ausflüge und Fahrten bestimmt.“10 Hier verbinden sich Einflüsse der Lebensreform mit einer christozentrischen Frömmigkeit, die man sich im wahrsten Sinne des Wortes auf die Fahnen geschrieben hatte. Blieb der Quickborn allein schon zahlenmäßig ein kleiner elitärer Kreis, so konnte der Bund Neudeutschland (ND), gegründet 1919, mehr in die katholische Masse hineinwirken. Die Ideale der Reformpädagogik konnten auch hier Raum gewinnen, obwohl der ND ursprünglich vom Kölner Erzbischof von Hartmann (1851-1919) gegründet wurde, um nicht zu reformieren, sondern zu restaurieren: Die katholischen Jugendlichen sollten vor den Unruhen nach der Revolution 1918/19 geschützt werden. Zur rechten Unterweisung in allen religiös-sittlichen Fragen wurde ein Geistlicher in die Gruppe hineingewählt.11 Umrahmt von einem festgefügten liturgischen Kalender, waren Messe, Predigt, Beichte, Kommunion und auch Jugendarbeit existentielle Teil des eigenen Lebens. Wandern mit dem ND gehörte dazu ebenso wie die alljährliche Marienandacht im Mai oder der fleischlose Freitag.12
2. „Die Kirche erwacht in den Seelen“ – Liturgie und Gemeinschaftserfahrung
Gleichzeitig setzte im katholischen Raum eine Symbiose zwischen Jugendbewegung einer- und Liturgischer Bewegung andererseits ein. Als paradigmatisch kann vielleicht die Äußerung des wenig später kurzfristig exkommunizierten Priesters Joseph Wittig (1879-1949)13 gelten, der im „Hochland“ zu Beginn der 1920er-Jahre konstatierte: „Ich habe mich aber nicht weihen lassen, für soziale, sondern für priesterliche Tätigkeit.“14 Damit ging Wittig dezidiert auf Distanz zu den Aktivitäten des politischen bzw. Sozialkatholizismus mit seinem Netzwerk an Vereinen und Verbänden für alle möglichen Lebensbereiche, die liturgiebewegten Anhängern als subjektivistische und liberalistische Irrläufer authentischer Katholizität galten. Die Euphorie einer jüngeren, intellektuellen Generation für die Liturgie als eine ersehnte, überzeitlich und unabhängig vom jeweiligen Ich geltende Form geistlichen Lebens brachte demgegenüber vor allem Romano Guardini (1885-1968) auf den Punkt, indem er 1922 festhielt: „Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen. […]. Es gibt religiöse Gemeinschaft. Und ist keine Ansammlung in sich beschlossener Einzelwesen, sondern die Einzelnen übergreifende Wirklichkeit: Kirche. Sie erfaßt das Volk; sie erfaßt die Menschheit.“15 Auf der unterfränkischen Burg Rothenfels und anderswo wurden neuen Formen der Liturgie wie die participatio actuosa (dt. „tätige Teilnahme“) zelebriert16 und über die gemeinsame gottesdienstliche Teilnahme an heiligen Zeichen und Handlungen Kirche als Gemeinschaft des Corpus Christi Mysticum erfahren. Jugend- und