Wir suchen immer nach dem Besseren
Wie oft haben wir den ersten Liebesbrief geschrieben, weil er uns immer noch nicht gut genug war? Doch als wir ihn endlich in einem gefütterten Briefumschlag verstaut und diesen mit einer hübschen Sondermarke beklebt und in den Briefkasten geworfen hatten, fiel uns ein noch schöneres Kompliment ein.
Wenn wir etwas sagen, dann wollen wir es richtig sagen. Wir reden dann immer weiter, bis wir glauben, es nun richtig gesagt zu haben. In dem Roman „Die Pest“ (1947) schildert sein Autor Albert Camus (1913–1960) einen Schriftsteller, der nie über den ersten Satz seines neuen Romans hinwegkommt, weil er ihn perfekt machen möchte. Eine Textaufgabe, die er nie im Leben lösen wird. Ihm gelingt dieser perfekte erste Satz nicht. Aber er hat ihn immerzu versucht.
Wir haben in den 50er-Jahren an flimmernden Fernsehern gesessen, um bei Krönungen, Katastrophen und Kunst dabei zu sein. Man konnte auch fast alles erkennen. Außer bei bedecktem Himmel, Regen und Schneefall. Und bei atmosphärischen Störungen. Den Technikern war das nicht genug. Sie verbesserten zuerst das Bild, dann schafften sie es, Bilder in Farbe auf die Mattscheibe zu zaubern, dann kam die HD-Technik auf, die Bilder zeigt, so scharf wie, ja schärfer als die Wirklichkeit …, und jetzt gibt es 3D-Fernseher.
Eine notwendige Voraussetzung
Alle Verbesserungen setzen die Gewissheit voraus, dass es etwas Besseres geben könnte. Nur : Woher kommt diese Gewissheit? Woher wissen wir, dass es einen vollkommenen Kreis geben könnte, wenn wir noch nie einen vollkommenen Kreis in der Wirklichkeit gesehen haben? Woher wissen wir, dass es Sittlichkeit gibt, wenn wir noch nie eine vollständig sittliche Handlung erlebt haben?
„Dies Bildnis ist bezaubernd schön, / Wie noch kein Auge je gesehn!“ heißt es in Wolfgang Amadeus Mozarts (1756–1791) Oper „Die Zauberflöte“ (1791) über die Prinzessin Pamina. Aber woher wissen wir, was ein schönes Bild ist, wenn noch „kein Auge“ je ein perfektes Bild gesehen hat? Warum haben wir eine Vorstellung davon, dass etwas überhaupt schön sein könnte? Warum haben wir einen Zweifel daran, dass das, was Menschen bisher gemacht haben, das Beste ist, was Menschen je machen können? Woher kommt dieser Zweifel?
Nun könnte man antworten: Wir sehen aus der Geschichte, dass alles besser wurde – und daher ist anzunehmen, dass es auch künftig besser werden kann. Aber kann man das Bessere nicht immer nur dann erkennen, wenn es einen Maßstab für das gibt, was besser und was schlechter ist? Woher kommt dieser Maßstab, wenn nicht aus der Vorstellung eines Allerbesten? Doch dieses Allerbeste wird es nie geben, weil die Geschichte zeigt, dass immer alles zu verbessern gewesen ist.
Wieso wollen wir dann etwas verbessern, wenn wir das letzte Ergebnis des Besten gar nicht kennen und nie erfahren werden? Ist das nicht irrational? Es gibt keinen rationalen Grund, warum wir daran zweifeln, dass das bisher Beste nicht auch endgültig das Beste ist. Leben nicht unsere Geschichte, die Geschichte aller Kulturen, aller Völker, von diesem Glauben daran, dass man es immer noch ein wenig besser machen könnte als bisher? Und ebenso wenig, wie unser Glaube an das Bessere je aufhören kann, setzt er doch etwas voraus, was wir nie sehen oder erleben werden : das unverbesserbar Beste. Wir leben mit einer nicht erfahrbaren, aber zugleich unabweisbaren Voraussetzung.
Bloß keine Utopien!
In jedem Menschen wirkt diese Vorstellung von der Vollkommenheit. Nicht das vollkommene Bild. Nicht ein Abbild des Vollkommenen, eine Utopie oder gar „best practice“. Das mögen sich phantasievolle Animateure ausdenken! Welche Anmaßung! Zuweilen ließen sich Philosophen sogar animieren.
So hat Platon (427–347) sich einen idealen Staat ausgedacht, in dem die Philosophen herrschen. (Und was beherrscht die Philosophen?)
Der englische Parlamentarier Thomas Morus (1478–1535) hat sein „Utopia“ (1516) im Nirgendwo angesiedelt, einem „Nicht-Ort“ (aus altgriechisch οὐ- („nicht-“) und τόπος („Ort“). Kein Ort. Nirgends. Denn die hiesigen Verhältnisse, die sind nicht so. Wie aber gelangen wir von unseren Verhältnissen zu jenem Nichtort?
Die Sonnenstadt „La città del sole“ (1602) des politisch verfolgten Tommaso Campanella (1568–1639) lag außerhalb von Europa – wo wir regenmüden oder verstädterten Europäer immer alle Paradiese glaubten, jedenfalls so lange, bis wir dorthin fuhren.
Das „Nova Atlantis“ (1627) von Francis Bacon (1561–1626), einem Wissenschaftstheoretiker, schildert eine Elite, die den übrigen Menschen sagt, wo es langgehen soll. Die Herrschaft der Technokraten.
Dies sind nur die berühmtesten Utopien. Beim Lesen merkt man, dass das angeblich so Utopische erstens so weit vorausgedacht nicht war (sondern doch sehr deutlich vom Zeitgeist bestimmt). Und dass es daher zweitens, im Lichte privater Vorlieben betrachtet, so wünschenswert auch nicht wäre, wenn man die Utopien verwirklichen würde.
Das, was ich meine, ist nicht ein Bild von einem Vollkommenen, sondern die Vorstellung, dass es Vollkommenes geben muss, wenn wir das Bessere suchen. Die Vorstellung von der Notwendigkeit des Vollkommenen.
Eine ganz kurze Theorie der Voraussetzung
Wir Menschen sind unfähig, das Vollkommene zu denken. Wir müssen es gleichwohl voraussetzen. Wir brauchen schließlich ein Kriterium, das uns erkennen lässt, dass das Veränderte auch etwas verbessert hat. Inwiefern ist der Farbfernseher gegenüber dem Schwarz-weiß-Fernseher eine Verbesserung ? Weil er realistischere (oh, was für ein Komparativ!) Bilder der Welt zeigt. Ist also Realismus das Bessere? Wer so antwortet, setzt einen endgültigen Maßstab voraus: Realismus. Wie begründet er ihn ?
Jede Verbesserung setzt, bis ans Ende verfolgt, eine Idee des Besten voraus. Wie aber sollten wir das Beste beschreiben, wenn menschliches Denken immer nur Stückwerk ist? Kein Mensch ist vollkommen.
Inwiefern ist die Gleichberechtigung aller Menschen klüger als eine Ständegesellschaft? Weiß jemand, wie die gerechte Welt aussieht? Ist jemand so weise, dass er alles weiß? Und doch setzt er bei jeder Abstimmung über ein besseres Gleichberechtigungsgesetz voraus, er wisse alles und sei so weise. Wie kann das zusammenpassen? Suchen wir Hilfe bei den Griechen. Nach Platons Überlieferung sagt Sokrates zu seinem Gesprächspartner Phaidros:
„Jemand einen Weisen zu nennen, guter Phaidros, scheint mir etwas Großes zu sein und Gott allein zu gebühren: aber einen Freund der Weisheit oder dergleichen etwas möchte ihm selbst angemessener sein und auch an sich schicklicher.“
Wir machen beim Denken Voraussetzungen, die wir gar nicht erkennen können. Wir setzen immer etwas Vollkommenes voraus, das wir allerdings nie beschreiben können.
Nun beschäftigt sich – worauf Sokrates hinweist – ein ganz bestimmtes Wissensgebiet mit der Idee des Vollkommenen, nämlich das Wissensgebiet der Religion. In vielen Konfessionen werden Geschichten darüber erzählt, die zeigen sollen, dass es dieses Wahre, Gute und Schöne gibt und von den Göttern verwaltet oder aber von Gott repräsentiert wird. Das Göttliche wäre der Platzhalter für etwas, was noch kein Auge je gesehen, kein Ohr je gehört …, was wir aber immer voraussetzen, wenn wir etwas verbessern wollen. Es ist die Idee der Vollkommenheit, des vollkommen Wahren, Guten und Schönen.
Religion ist das Glauben an die Vollkommenheit – und reflektiert zudem, welche Konsequenzen die Vorstellung einer nie erfahrbaren, sondern geglaubten Vollkommenheit für unser Leben hat. Vollkommenheit ist aber nur ein anderes Wort für … Gott.
Geschichten eines Vergnügungssüchtigen
Ich