„Die letzte Aufgabe unsres Daseins: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt als möglich zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung. Dies allein ist nun auch der eigentliche Maßstab zur Beurteilung der Bearbeitung jedes Zweiges menschlicher Erkenntnis.“
Das Paradies
Diese „Sorge um das ewige Leben“ mag manchmal bedeuten, dass wir uns vorstellen, wie wir nach dem Tod existieren. Darüber haben viele Konfessionen wunderschöne Geschichten erzählt – jene über das Paradies nämlich. Das Paradies ist die Vorstellung vom richtigen, guten und schönen, vom erfüllten und sinnvollen Leben. Wir alle haben eine solche Vorstellung. Wir alle wissen oder ahnen, wie wir gerne leben würden. Kein Mensch ohne Paradiesvorstellung. „Wenn ich mir was wünschen dürfte …“, singt Marlene Dietrich (1901–1992) in ihrem berühmten Schlager. Deshalb kann uns die Werbung mit größter Aussicht auf Erfolg einen Paradiesurlaub versprechen, Paradiescreme, ein Gartenparadies und paradiesische Zustände.
Aber man kommt nur ins Paradies (kann also nach dem Tod glücklich leben), wenn man zuvor sittlich gehandelt hat. Wer auf ewig schön leben will, d.h. ein gutes Gewissen haben will, muss jetzt moralisch gut handeln. Weil jeder paradiesisch leben möchte, also glücklich, gut und zufrieden, strahlt die Bedeutung dieser Vorstellung unmittelbar aufs Handeln zurück.
Das Paradies ist das religiöse Bild für das „Prinzip Unendlichkeit“. Die Vorstellung vom Paradies stellt die Frage, wie wir vor unserem Tod so leben, dass wir unser Handeln aus der Perspektive der Ewigkeit als „richtig gelebt“ beurteilen. Das nämlich wäre die Konsequenz aus einer religiösen Betrachtung des Lebens. Und zumindest für alle Bauherren, Städteplaner, Bahningenieure, Erfinder, Versicherungsnehmer von Lebensversicherungen und Eltern würde ich behaupten: Diese Berufsgruppen handeln angesichts des „Prinzips Unendlichkeit“. Sie zweifeln an der Endgültigkeit des Todes und denken über den eigenen Tod hinaus.
Im Vertrauen: Die meisten Menschen leben so, dass sie über ihren Tod hinaus denken …, sie planen das Leben nach dem Tod; sie handeln im Leben so, dass das Leben nach ihrem Tod gut oder sogar besser weitergeht. Sie planen, um es ganz schlicht zu sagen, ihr jetziges Leben angesichts ihres ewigen Lebens.
Genau dies aber ist ein Thema vieler Weltreligionen: Man sollte handeln, als ob das Paradies wartet.
Aber das Paradies wartet nur in einem besonderen Fall: Wenn man sich im Leben richtig verhält.
Tun und Lassen
Das gedankliche Überschreiten unserer Endlichkeit hat Folgen für unser Handeln in unserer Endlichkeit. Genau dies wäre eine Denkfigur, unter der viele Konfessionen Platz fänden. Im Koran heißt es in der berühmten Sure 36:
„Siehe, Wir machen die Toten lebendig und Wir schreiben auf, was sie zuvor taten, und ihre Spuren und alle Dinge haben Wir aufgezählt in einem deutlichen Vorbild.“
Wenn wir also nach unserem Tod ins Paradies kommen wollen … oder, anders gesagt, wenn wir zu Lebenszeiten unter dem Anspruch leben wollen, unser Handeln auch nach unserem Tod nicht bereuen zu müssen, dann würden wir nur Gutes tun und alles Schlechte lassen.
Das Paradies ist nicht Lohn oder Ersatz für das irdische Leben, sondern es ist die Mahnung, jetzt schon so zu leben, wie wir einst meinen werden, dass wir hätten leben sollen.
Das Paradies kann nicht Lohn sein, denn dann wäre Religion nichts als Krämergesinnung. Ein Tauschgeschäft.
Das Paradies kann nicht Ersatz fürs Leben sein, denn wir stellen die Frage ja mitten im Leben, in einem Leben, das wir jetzt bewältigen müssen.
Aber als Vorstellung hat das Paradies eine gewaltige regulative Bedeutung. Es sagt: Lebe so, dass du, wenn du am Ende deines Lebens zurückblickst, sagen könntest, du hast verantwortungsvoll gelebt. Bewerte also dein ganzes Leben nicht nur allein, während du noch lebst. (Denn so viel ist sicher: Am Tag vor dem Platzen der Aktienblase sah dein Leben ganz anders aus als am Tag danach. Am Tag vor der Geburt deiner Tochter sah dein Alltag anders aus als am Tag danach. Am Tag vor der Krebsdiagnose sah dein Leben anders aus als am Tag danach. Welchen Tag wolltest du als Stichtag nehmen, um dein Leben zu bewerten? Das Leben ist eine Rennbahn, und nach jeder Kurve sieht alles ganz anders aus.) Aus der Perspektive des Lebens allein kann man das Leben nicht beurteilen. Nimm daher deinen Tod als Position hinzu, aus der du dich befragst. Und dann befrage dich aus dieser Perspektive, wie du jetzt lebst. Stelle dir immer vor, du würdest dein Leben aus der Zeit nach deinem Tod prüfen.
Es scheint für uns Menschen natürlich zu sein, über den eigenen Tod hinaus zu denken. Und da alle Konfessionen genau dies thematisieren, gelangt man zu dem naheliegenden Schluss, dass religiöses Denken natürlich ist. Und weiter: In diesem Sinne ist jede Religion immer eine Naturreligion …, sie verbalisiert das, was alle Menschen von Geburt an (also: von Natur aus) im Denken bewegt: die Frage nämlich, wie es nach unserem Tod weitergeht, mit der Welt, und (daher) jetzt mit uns – immerhin sind wir Teil dieser Welt – und welche Konsequenzen wir daraus ziehen, dass wir kraft Vernunft über den eigenen Tod hinaus denken können.
Wenn wir berücksichtigen, dass alle Menschen sich auch für jene Mitmenschen verantwortlich fühlen, deren Leben sie selbst gar nicht mehr miterleben – und wenn wir hinzunehmen, dass alle Konfessionen sich genau mit dieser Aufgabe beschäftigen –, dann kann man formulieren, dass in diesem Sinn alle Menschen religiös sind.
Alle Menschen sind religiös
Eine solche Formulierung ist keine Vereinnahmung jener Menschen, die bewusst atheistisch sein wollen. Religiosität ist ja keineswegs identisch mit dem Glauben an einen Gott. Vielmehr ist Religion das Durchdenken und Durchleben des Verhältnisses zu unserer Endlichkeit. Erklärte Atheisten mögen die Sorge um die Welt nach ihrem Tod vielleicht nicht als „religiös“ bezeichnen, aber sie haben diese Sorge trotzdem. Wenn nun der Ausdruck „Religion“ stört, verstört oder vor den Kopf stößt, so kann man vielleicht auf das Wort verzichten (oder den Beginn des Kapitels „7. Warum wir immer schon in einer Konfession leben. Eine erkenntnistheoretische Überlegung – unten S. 106 – empfehlen).
Wie auch immer: Mit der eigenen Endlichkeit müssen sich auch Atheisten auseinandersetzen. Auch sie transzendieren gedanklich immer den eigenen Tod.
Der Natur des Menschen entspringt die gedankliche Notwendigkeit, sich mit den Eigenheiten dieser Natur zu beschäftigen: z. B. mit der Eigenheit seiner Endlichkeit. Wir sterben nicht nur, wie alle Lebewesen; wir wissen, dass wir sterben. Und diesem Wissen muss man sich stellen. Religion heißt zuallererst, sich diesem Wissen zu stellen. Und in diesem Sinne sind alle Menschen religiös. (Und deshalb muss religiöse Unterweisung zur Bildung gehören. Andernfalls würden wir der nachwachsenden Generation die Möglichkeit nehmen, zu lernen, sich zu einem unausweichlichen Lebensproblem rational zu verhalten.)
Es ist doch beruhigend, dass sich alle Menschen zumindest in einer Frage einig sind: Wie verhalte ich mich jetzt angesichts des Wissens, dass ich sterben werde? Der Tod stellt alle Menschen vor die Frage, wie sie mit diesem Wissen handeln, sei es nun, dass sie mit dem eigenen Tod auch die Verantwortung für alles andere enden lassen, sei es, dass der Tod eben keine Grenze ist, nach der die Verantwortung aufhört. Wenn wir unsere Kinder auf das „wirkliche Leben“ vorbereiten wollen, dann müssen wir sie mit dieser Frage vertraut machen. Sonst suchen sie Antworten bei Schlagern und anderen Lebensberatern, die ihnen die Wirklichkeit vorenthalten.
3. Gibt es Vollkommenes?
Aber welche Konsequenz hat das Wissen um den eigenen Tod für das Handeln des einzelnen Menschen? Vielleicht zuallererst die Einsicht, dass man eilen muss. Dass man keine Zeit verschwendet. Dann, dass man nicht alles, was man will,