„Die Autonomie über die eigenen Gefühle ist eine befreiende Machterfahrung“ (67).
Wie viel Religion steckt noch in einer solchen Spiritualität, wenn wir Religion im weitesten Sinne als Bezug auf etwas, das außerhalb unserer selbst zu finden ist, verstehen?
„Jeder spirituelle Weg kann zum Ego-Trip werden“ (80).
Richtig. Was genau unterscheidet diese Spiritualität von einem Ego-Trip? Weist sie den Weg in die Gemeinschaft, zu anderen, zu Verantwortung und Engagement oder kreist sie vor allem um sich selbst? So überrascht es nicht, dass es am Ende heißt:
„Das große Ziel ist: eine ununterbrochene klare Selbstbewusstheit für unser eigenes Bewusstsein in seinen Hauptkräften: Wollen, Fühlen, Denken. Erst der in dieser Form selbstbewusste Mensch lebt wirklich autonom“ (165).
Ist das eine angemessene „Zielvorgabe“ für eine Spiritualität? Ist es das, was gelebte Religion ausmacht?
Meine kritischen Anmerkungen dürften hinreichend deutlich gemacht haben, dass ich mit der von Sabine Bobert skizzierten Spiritualität meine Mühe habe. Nicht, dass etliche ihrer Einsichten nicht sinnvoll und tragfähig wären, aber das Gesamtbild, das sie entwirft, könnte einer „Ego-Spiritualität“ näherstehen als dem, was Spiritualität im substanziellen Sinne sein könnte – oder sein sollte. Urban mystix ist das, was man als säkulare Spiritualität bezeichnen könnte, weil es in ihr keinen Bezug mehr gibt zu etwas, was außerhalb der Eigenkräfte des Menschen liegt. Spiritualität wird in dieser säkularen Variante zu nichts anderem als zu einem Mittel, die eigenen Ressourcen zu stärken.
Welche Dimensionen fehlen hier? Oder grundsätzlicher gefragt: Welche Dimensionen braucht Spiritualität, damit sie tragfähig und substanziell ist? Wie und woher lassen sich solche Dimensionen gewinnen? Offenbar gibt es ja verschiedenste Formen von Spiritualität, die nicht alle gleichermaßen vieldimensional sind, sondern nur bestimmte Teilaspekte verwirklichen. Welche Dimensionen braucht eine Spiritualität, damit sie mehr ist als nur das Selbstgespräch des Menschen mit sich selbst und ein Programm zur Selbstoptimierung?
7. Von den Versuchungen der Spiritualität
Ein Blick in die Versuchungsgeschichte Jesu kann den Blick für unsere Suche schärfen. Anders, als es sonst üblich ist, möchte ich diese Geschichte nicht als eine Begebenheit im Leben Jesu lesen, sondern als exemplarische Geschichte über die Gefährdungen spirituellen Lebens. Nach der Taufe, so heißt es bei Markus, Lukas und Matthäus, führt der Geist Jesus in die Wüste. Das christliche Leben muss sich nach der Taufe bewähren. Der Geist Gottes muss in den Auseinandersetzungen des Alltags erkennbar bleiben – als Kraft des Widerstandes gegen das Abrutschen des Spirituellen. Welche Gefährdungen lassen sich für den gelebten Glauben erkennen?
Jesus wird vom Versucher für 40 Tage und 40 Nächte in die Wüste geführt – eine symbolische Zahl und Zeit, die andeuten: Es ist ein langer Zeitraum, den Jesus fastend und betend in der Wüste verbringt. Über bestimmte Zeiträume hinweg schaffen wir es gut, zu widerstehen und gefasste Entscheidungen durchzuhalten, vielleicht sogar auf gute Weise spirituell zu sein. Die Versuchungsgeschichte weiß aber um die gefährlichen Momente, die nicht sofort, sondern erst nach einer Weile auftreten. Wenn wir etwas Neues beginnen, sind wir ja besonders am Anfang aufmerksam und achtsam; nach dieser ersten Phase stellt sich Gewöhnung ein. Die Sache läuft, denken wir, und je länger, desto mehr lässt unsere Aufmerksamkeit nach. Wir fühlen uns sicher. In genau diesem Moment tritt der Versucher auf, fangen die einflüsternden, versuchenden Stimmen zu sprechen an. Sie flüstern und wispern, sie schreien und dröhnen, sind aus dem Kopf nicht wegzubekommen. Wie Ohrwürmer dringen sie in Jesus ein und fordern ihn heraus. Immer wieder der gleiche Satz: „Bist du Gottes Sohn, dann handle …“ Die Stimmen stellen in Frage, lassen zweifeln und bieten verführerische Alternativen an.
In der ersten Gefährdung fordert der Versucher Jesus auf, Steine in Brot zu verwandeln. Natürlich geht es nicht nur ums Brot. Es geht um das Angewiesen-Bleiben auf etwas, das nicht in meiner Macht steht. Magie ist der Versuch, das Unverfügbare in die eigene Machtsphäre zu bringen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern aus jedem Wort, das Gott spricht, antwortet Jesus. Nicht ich selbst spreche mir die lösenden, befreienden und nährenden Worte zu, sondern ich lasse mir diese Worte sagen. Weil diese Worte eben nicht meine eigenen sind, sind sie für denjenigen, der selbst alles sein will, ärgerlich. Spiritualität aber, gelebter Glaube, braucht die anderen, die das Gotteswort an mich weitergeben, und braucht Gott, der dieses Wort spricht. Nicht ich schaffe mir meine eigene Tradition, sondern ich tauche in die Worte anderer ein und lasse sie mir gesagt sein. Deshalb besteht die Antwort Jesu jeweils aus einem Zitat aus dem Alten Testament. Ich gestehe mir ein, nicht mein eigener Grund zu sein. Ich bleibe auf andere angewiesen, bin eingewoben in Gemeinschaft und in Gott, der mich anspricht und freispricht vom Wahn, selbstmächtig zu sein. Weil ich nicht selbstmächtig bin, brauche ich Gott und die anderen.
Die zweite Versuchung: Die dämonischen Stimmen werden immer bedrohlicher und schärfer und führen Jesus auf einen hohen Berg: Wenn du Gottes Sohn bist, spring! Gott wird dich tragen. Jesus soll Gott herausfordern, ein sichtbares und unzweifelhaftes Zeugnis seiner Macht abzulegen und ihn im Flug aufzufangen – entweder selbst oder auch durch ein ganzes Engelsheer. Was für eine kindliche Vorstellung. Und doch: Wir sind in der Gefahr, Gott zwingen zu wollen, in unsere Logik zwingen zu wollen. Wir stehen nicht nur in der Gefahr, selbstmächtig sein zu wollen, sondern uns auch Gottes zu bemächtigen. Gott in der Hand zu haben, das wäre das höchste aller Gefühle. Ich springe und zwinge Gott zum Eingreifen. Spiritualität lebt nicht selten von der Sehnsucht, sich Gottes bemächtigen zu können und so die Unverfügbarkeit Gottes unter Kontrolle zu haben. Ich bestimme, wann und wie Gott handelt.
In der dritten Versuchung wird die Stimme des Versuchers immer leiser, immer verführerischer. Immer höher geht es hinauf, jetzt, am höchsten Punkt, lässt sich alles übersehen: Schau, sagt der Versucher zu Jesus: alles deins. Du kannst über allem stehen, kannst vollkommen unabhängig und allmächtig sein. Die dritte Versuchung fasst die beiden anderen Versuchungen zusammen und setzt ihr zugleich die Krone auf. Der Versucher sagt: Alles gehört dir, wenn du bereit bist, mir zu dienen. Vielleicht könnte man sogar sagen: Die eigene innere Stimme sagt: alles deins, wenn du bereit bist, nur dir selbst zu dienen. Die eigene Spiritualität im Dienst des Ego, der eigenen Interessen, der eigenen Selbstüberhebung und der eigenen Allmachtsphantasien.
Spiritualität ist gefährlich und gefährdet. Wie kommen wir nur darauf, zu meinen, menschliche Religiosität sei irrtumsfrei und vorm Abrutschen ins Unsinnige gefeit. Der Theologe Matthias Kroeger hat – bei aller Hochschätzung menschlicher Suche nach Gott – auf diese Gefahr immer wieder eindringlich hingewiesen: Spiritualität ist nicht von sich aus unfehlbar.20 Die häufigsten Gefährdungen von Spiritualität lassen sich im Anschluss an die Versuchungsgeschichte vielleicht auf folgende drei Kurzformeln bringen:
Spiritualität ja, Religion nein – eine religionsfreie Spiritualität Religion steht hier für den Bezug auf ein Zeichensystem, das ich als Einzelner nicht geschaffen habe, sondern in das ich mich hineinstelle. Religion ist ein unverfügbares Kommunikationsgeschehen, das sich in Liturgien und Glaubenstraditionen vollzieht, die ich nicht bestimmen und beeinflussen kann. Wer Religion in diesem Sinne ablehnt, meint, dass nichts gilt, das ich nicht selbst erschaffen habe.
Spiritualität ja, Gemeinschaft nein –
eine ich-zentrierte Spiritualität
Gemeinschaft meint in diesem Zusammenhang das Bezogensein auf andere. „In seiner religiösen Welterfahrung ist der Mensch niemals allein.“21 Religiöses Erleben bleibt trotz seiner individuellen Färbung dennoch gebunden an die Erfahrungen anderer. Sonst wären solche Erfahrungen ja auch gar nicht mitteilbar. Wo religiöse Erfahrungen sich nicht mehr mit anderen teilen lassen, bekommen sie dämonische Züge.
Spiritualität ja, Gott nein – eine transzendenzfreie Spiritualität
Die dritte Formel bezieht sich darauf, dass nicht wenige Spiritualitäten ohne „Gott“ auskommen, also ohne einen Bezug auf etwas, das das Individuum transzendiert. Johann Baptist Metz nennt eine