Im Begriff „Freestyle Religion“ schlummert bereits ein verborgener Wunschtraum, der wohl allem religiösen Streben innewohnt: der Wunsch, aus dem ermüdenden Selbstgespräch mit uns selbst herausgerissen zu werden. Religion, wie immer wir diese verstehen, ist immer schon mit dem Wunsch, dass wir über uns hinausgelangen, unauflösbar verbunden.
So sucht Freestyle Religion den Punkt, an dem wunderbares Wirken erlebbar wird: hinausgeführt zu werden über die eigenen beschränkten Möglichkeiten und hineinzuspringen in die Weite des Göttlichen. Freestyle Religion erhofft wunderbares Wirken auch noch in einer anderen Hinsicht, nämlich selbst wirksam und aktiv zu werden, über die eigenen Interessen hinausgeführt zu werden und kooperativ mit anderen Wunderbares und Erstaunliches entstehen zu lassen. Freestyle Religion, so lässt sich das Folgende vielleicht in der kürzestmöglichen Form umreißen, sucht nach dem wunderbaren Wirken, das mich über mich hinausführt – zu anderen und zum Transzendenten.
Weil sich mein Nachdenken stets im Dialog entfaltet, im tagtäglichen mit meiner Familie und darüber hinaus mit meinen Freundinnen und Freunden in Deutschland, Italien, der Schweiz und wo immer sie gerade stecken, möchte ich ihnen dieses Buch widmen. Ihnen allen verdanke ich vielfältige Impulse und Fragestellungen, ohne die „Freestyle Religion“ undenkbar gewesen wäre.
Rehetobel/St. Gallen im Februar 2020
I.
Religion lebt – oder ist sie doch schon tot? Zur religiösen Gegenwart
1. Was kommt, ist schon da
Was ich in meinem Alltag als Pfarrer erlebe, ist kein großes, alles erschütterndes Erdbeben, sondern Schlimmeres als ein Erdbeben. Die alten Kirchenmauern, die jahrhundertelang das, was wir Religion nennen, umschlossen, beschützt und bewahrt haben, werden nicht von einem spürbaren heftigen Erdstoß in Schutt und Asche gelegt. Was sich hinter unserem Rücken, also irgendwie spürbar, aber eben nur schwer fassbar, vollzieht, ist ein inneres Zerbröseln und Bröckeln des alten Gefüges, als würden sich die Steine, die lange die Kirchenmauern getragen haben, von innen zersetzen, verfaulen wie Obst, das überreif ist und seine Zeit gehabt hat. Das Alte trägt nicht mehr, verliert an Plausibilität und Evidenz. Auf einmal verlieren die alten Überzeugungen ihre Kraft, die Netze lösen sich auf. Neue Lebensrhythmen, andere Gewohnheiten, veränderte Perspektiven rücken traditionelle und ererbte Kirchlichkeit in ein blasses, wenig anziehendes Licht. Religion und Glaube sind den Medien jenseits von Pädophilie und Kirchenaustrittsstatistiken lange schon keine Schlagzeile mehr wert, denn das kirchliche Siechtum ist wenig interessant. Einerseits.
Andererseits gibt es offenbar diese vage Sehnsucht nach Spiritualität, diese diffuse Rückkehr der Religion. Der Buchmarkt zu Spiritualität (und Esoterik) boomt und treibt immer neue und überraschendere Blüten. Doch bleibt diese Sehnsucht neblig, schwer zu fassen. An den Kirchen, den organisierten und institutionalisierten Strukturen, zieht sie jedenfalls vorbei, ohne Spuren zu hinterlassen. Die Bankreihen am Sonntagmorgen bleiben zumeist leer.
Das ist der Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu dem, was ich als „Freestyle Religion“ beschreiben werde. Mit Absicht wähle ich einen Ausdruck, der im üblichen kirchlich-theologischen Sprachgebrauch eher ungewöhnlich, wenn nicht sogar ein wenig verwirrend ist. In jedem Fall ist „Freestyle Religion“ oder „religious Freestyle“ unbelastet von Vorurteilen und vorschnellen Einordnungen. Freestyle Religion ist das Kommende, das schon da ist, die Kontur des Neuen, das sich zeigt. Wenn wir genau hinschauen, sehen wir diese Kontur bereits an vielen Orten als praktizierte und gelebte Religion. Zugleich enthält sie, wie ich meine, ein noch unentdecktes Potential, das es zu entwickeln und zu stärken gilt – um der Religion und der Menschen willen. Freestyle Religion kommt und ist schon da. Versuchen wir also zu verstehen, was in unserer Gegenwart religiös vor sich geht und was sich zukünftig immer deutlicher zeigen wird. Eine Beschreibung der Gegenwart kommt nicht umhin, auch zu beschreiben, wie es zu diesem Zustand der Gegenwart gekommen ist: Welche Wellen haben der Religion ihre derzeitige Gestalt gegeben, welche Stürme und Sturmfluten sind über sie hereingebrochen?
Und was lassen sich daraus für Schlüsse für ihre zukünftige Gestalt ziehen: Bleiben die Kirchen als Symbolgestalten institutionalisierter Religion ohnmächtige Opfer dieser Prozesse, oder vermögen sie diesen Veränderungsprozessen aktiv eine Richtung zu geben? Ist die Theologie mehr als ein hinterherdenkendes und dogmatisches Anhängsel der Kirche? Oder kann sie vorausdenken, konstruktiv Potenziale und Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft der Religion entwickeln und in Gang setzen? Kurz: Kommen die Kirchen aus ihrer jammernden und selbstzentrierten Opferrolle heraus und können sie etwas zur Lebensbewältigung, zur Heilung des Einzelnen und des Gemeinschaftlichen heute beitragen? Kritisch beitragen, indem sie Fehlentwicklungen benennen und im Gespräch mit anderen Wissenschaften Kriterien für gelungene Religiosität und Spiritualität so aufzeigen, dass der Einzelne in die Lage versetzt wird, eine eigene Spiritualität, einen eigenen Glaubensstil, seine und ihre Freestyle Religion so zu gestalten, dass sie nicht nur eine Privatsache bleibt, sondern auch aufs Gemeinschaftliche ausstrahlt?
In diesem Sinn versteht sich das Folgende als kritische und praktische Anleitung, die individuelle Art spirituell zu sein, so zu entwickeln, dass sie tragfähig, also eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt zugleich ist. Denn eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt muss eine Spiritualität sein, so meine Grundthese, wenn sie tragfähig und belastbar sein soll.
Im ersten Teil werde ich versuchen, die Kräfte, die unsere religiöse Gegenwart prägen, sichtbar zu machen. Im zweiten Teil wird es darum gehen, die drei grundlegenden Dimensionen des Religiösen zu beschreiben. Die wesentlichen Merkmale des Freestyle, also die Muster, die unseren Umgang mit religiösen Elementen bestimmen, werden im dritten Kapitel genauer bestimmt. Das vierte Kapitel schließt mit praktischen Übungen.
2. „Freestyle Religion“ und „religious Freestyle“
Um aus den religiösen Festlegungen und Vorurteilen herauszukommen, habe ich für meine Überlegungen einen Terminus gewählt, der ursprünglich aus dem jugendlich geprägten Bereich des Sports kommt, inzwischen aber eine existenzielle Grundhaltung beschreibt. „Freestyle“ bezeichnet seit den 1980er Jahren den individuellen Wunsch, dem Leben einen eigensinnigen und eigenwilligen, ganz persönlichen Stil zu geben. Was sich ursprünglich auf die sportliche Fähigkeit bezog, mit dem Snow- oder Skateboard etwas Eigenes zu kreieren und anderen zeigen zu können, einen eigenen Sprung oder eine neue Sprungkombination, ist inzwischen zum gesellschaftlichen Normalfall geworden: In den 1960er Jahren war jeder ein Künstler. Heute ist jeder ein Freestyler. Jede etwas Eigenes. So lautet der Imperativ des Heute: Arbeite das Besondere deines eigenen Selbst heraus.1
Wenn ich am Rand der Skipiste wackelig auf meinen Ski stehe und (etwas neidisch) zuschaue, wie andere einen spektakulären Sprung nach dem anderen über die Schneerampe hinlegen oder wie „Freerunner“ über Parkbänke und Mauern springen, wird mir deutlich, was Freestyle meint. Jahrelang habe ich in Italien meinen Kindern beim Parcours-Training zugeschaut, wie sie die Bewegungsfolgen für Backflips und Saltos geübt haben. Wer Jugendlichen beim Freestyle-Sport zuschaut, versteht sehr bald, dass sich im „Freestyle“ physisches Können, persönlicher Ausdruck, bewusste Gestaltung, Individualität und Gruppenzugehörigkeit auf einzigartige Weise verbinden.
Mit dem Begriff „Freestyle Religion“