Vorwort
1868 ist die britische Monarchin Queen Victoria die mächtigste Frau der Welt. Heute staunen wir, mit welchen inneren und äusseren Kämpfen sich diese starke Frau herumschlagen musste, um sich ein paar Wochen von ihren Verpflichtungen zu lösen und sich auf eine Reise ins Ausland zu begeben. Schwer gezeichnet von einer Trauerdepression nach dem Ableben ihres geliebten Gatten Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, war ein Time-out unausweichlich geworden. Die Reise, die sie in kleinem Kreis in die Schweiz unternahm, entwickelte sich zu einem eigentlichen Genesungsprozess. Dies ist ihrem Tagebuch und den Zeitzeugnissen zu entnehmen, die diese Episode ihres Lebens zu einem gut dokumentierten Kapitel sowohl der Geschichte des englischen Königshauses als auch der Geschichte des frühen Tourismus in der Schweiz machen.
Dass wir die politischen und emotionalen Verstrickungen und Wendungen jener Wochen in der Schweiz so unmittelbar nachvollziehen können, ist dem Autor Peter Arengo-Jones zu verdanken. Er hat sich als ehemaliger Mitarbeiter der britischen Botschaft in der Schweiz jahrelang mit der Schweizreise Königin Victorias beschäftigt und eine ebenso umfassende wie umfangreiche Recherche in zahlreichen Archiven in ganz Europa betrieben. Sein Buch, das 1995 in einer ersten Ausgabe in englischer Sprache erschien, liegt heute in erweiterter und überarbeiteter deutscher Fassung vor. Es ist insbesondere ergänzt durch eine biografische Einleitung, die den historischen Kontext der Leserschaft noch etwas ausführlicher näherbringen soll, und durch weitere Aspekte zu den Reisezielen und involvierten Personen. Die Akribie und Präzision der Recherche verdankt sich der ursprünglichen Ausbildung des Autors als Altertumswissenschaftler. Keine Quelle, die er nicht selbst in den Händen gehabt, kein Zitat, das er nicht auf dessen Genauigkeit hin geprüft hätte. Es gelingt ihm, den Leser und die Leserin auf eine Zeitreise in die Tage vom 7. August 1868 bis zur Rückkehr der Königin am 9. September mitzunehmen. Dabei verfolgen und beobachten wir Queen Victoria während ihrer Aktivitäten und können nachvollziehen, wie sich angesichts der überwältigenden Natur ihre Seele öffnet und sie zu sich selbst findet. Das ist spannend geschrieben, mit ergänzenden Hintergrundinformationen kommentiert und mit bemerkenswertem Bildmaterial dokumentiert.
Nach dem Tod ihres Mannes soll die Königin gegenüber einer Vertrauensperson erwähnt haben, dass es niemanden mehr gebe, der «Victoria» zu ihr sage. Diese bemerkenswerte Feststellung zeigt deutlich die Konflikte, mit denen die Queen bei der Erfüllung verschiedener Rollenerwartungen konfrontiert wurde. Ein Gegenüber, auf das sie sich verlassen konnte und das ihr Zuneigung entgegenbrachte, war für sie jedoch unabdingbar. Das sollte uns eigentlich nicht verwundern, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass auch die mächtigste Frau der Welt dieselben menschlichen Bedürfnisse hatte wie wir. Die gleichzeitige Ausübung der unterschiedlichen Rollen als Monarchin, kirchliches Oberhaupt, Mutter, Partnerin und ganz einfach als sie selbst war ausgesprochen spannungsreich. Während der Schweizreise zeigt sich dies besonders deutlich.
Die packende Geschichte von Victorias Reise hat für mich auch einen persönlichen Hintergrund. Es ist einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass ich seit einigen Jahren in der ehemaligen Pension Wallis, wo Königin Victoria vor 150 Jahren logierte, wohne. Von meinem Wohnzimmer aus kann ich die Landschaft und die Stimmungsbilder, die Königin Victoria im August 1868 in ihren Aquarellen festhielt, genau nachvollziehen. Die Aussicht ist phänomenal, sie hat die Königin beeindruckt, und die Sicht beeindruckt noch heute. Zum 150-jährigen Jubiläum des Besuchs der Königin war deshalb schon lange geplant, im Historischen Museum Luzern ein Projekt mit Publikation, Ausstellung und Theater zu lancieren und dieses für Luzern und die Schweiz historische Ereignis in Erinnerung zu rufen. Dass die Publikation nun in dieser Form vorliegt, ist vielen Partnern zu verdanken. Ich danke Madlaina Bundi, Bruno Meier, Simone Farner und Rachel Camina vom Verlag Hier und Jetzt in Baden für die gute Betreuung, Gestaltung, das Lektorat und die Herausgabe des Buches. Nikolaus G. Schneider hat die umfangreiche Textmenge des Autors bravourös ins Deutsche übersetzt. Und schliesslich gilt mein Dank dem Autor Peter Arengo-Jones für seine Bereitschaft, sich nochmals intensiv mit «seiner» Victoria zu beschäftigen. Unterstützt in der Vorbereitung haben ihn Rosmarie Rosser, Anne-Marie Renati, Andreas Florian, Jane Fox und Eva Bachmann, die ich in meinen Dank einschliesse. Massgebliche Unterstützung haben Max Wandeler und Carl Elsener bei der Anschubfinanzierung des Projekts geleistet. Weitere Beiträge verdanken wir insbesondere der Ernst Göhner Stiftung sowie weiteren Stiftungen, Vereinen, Firmen und kantonalen Kulturförderstellen, die im Impressum einzeln aufgeführt sind. Einen namhaften Betrag hat uns schliesslich Hildegard Stierli-Kronenberger zukommen lassen, der die Realisierung in der vorliegenden Form ermöglichte.
Christoph Lichtin
Direktor Historisches Museum Luzern
Queen Victoria. Dieses Bild wurde für Prinz Albert gemalt und hing in seinem Privatgemach. Ölgemälde von Franz Xaver Winterhalter, 1843.
Eine der stärksten Kindheitserinnerungen meines Grossvaters betraf die Frauen, die überall schwarz gewandet herumgingen, um so ihre Sympathie mit der verwitweten Königin Victoria und Mitgefühl für deren tiefe Trauer zum Ausdruck zu bringen. Er versteckte sich verängstigt unter den schwarzen Reifröcken seiner Tanten. Die Leute fragten sich, warum es überhaupt eine Monarchie gab, sagte er, da man die Königin so gut wie nie zu sehen bekam.
Dieser Verlust, der Tod ihres geliebten Mannes Albert, traf die Königin wie ein Erdbeben, und sie spürte die Nachbeben für den Rest ihres langen Lebens und trug bis zu ihrem Tod im Jahr 1901 nur noch schwarz.
Das viktorianische Zeitalter gilt seither als eine biedere, prüde, zugeknöpfte Zeit und die Königin als dezidiert und dauerhaft «not amused». Doch das war sie eigentlich gar nicht, wie die folgenden Seiten zeigen werden.
Peter Arengo-Jones
INHALT