Was zeigen wir in diesem Buch? Bis in die 1980er-Jahre zeichnet sich das soziologische Profil der Wirtschaftseliten durch eine gewisse Stabilität und Kontinuität aus. Schematisch liesse sich ein Schweizer Wirtschaftsführer folgendermassen beschreiben: männlich, Schweizer Staatsbürger, Jurist, freisinnig, Milizoffizier, in mehreren Verwaltungsräten von Grossunternehmen (siehe erster und zweiter Teil). Doch im Lauf der letzten 30 Jahre führte die Globalisierung und die zunehmende Finanzialisierung der Wirtschaft zu grossen Umwälzungen. Die Anzahl Ausländer an der Spitze der Unternehmen nahm stark zu. Wirtschaftswissenschaftliche Studien oder ein Master of Business Administration (MBA)* – der im Idealfall an einer prestigeträchtigen angelsächsischen Universität erworben wurde – traten an die Stelle der juristischen Ausbildung. Neue Institutionen wie Business Schools und die internationalen Beratungs- und Revisionsgesellschaften mauserten sich zu wichtigen Orten der Ausbildung und Beziehungspflege. Umgekehrt lockerten sich die Verbindungen zwischen Wirtschaft und Politik. Auch die Verflechtungen zwischen den Grossunternehmen verloren stark an Bedeutung. Doch trotz des Umbruchs blieben traditionelle Auswahlmechanismen wirksam: Nach wie vor erreichen nur sehr wenige Frauen und Arbeiterkinder wirtschaftliche Spitzenpositionen. Zudem bleibt die Armee – obschon sie an Einfluss verloren hat – ein Ort, an dem Schweizer Eliten ausgebildet und sozialisiert werden.
Die Schweizer Wirtschaftseliten unterscheiden sich von denjenigen anderer europäischer Länder dadurch, dass sie gleichzeitig in mehreren Machtsphären vertreten sind. Das gilt vorab für die Politik, aber auch für die militärischen, kulturellen, wissenschaftlichen und philanthropischen Bereiche. Warum ist das so? Das Milizsystem hat den Bundesstaat seit seiner Gründung 1848 geprägt, daher die enge Verflechtung zwischen der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Macht. Hinzu kommt die Kleinräumigkeit des Landes, die zu einer überschaubaren Eliteformation geführt hat, in der, dank einer Vielzahl von gesellschaftlichen Netzwerken, «jeder jeden kennt». Das aus der Kleinräumigkeit des Landes heraus entstandene Gefühl der Verletzlichkeit führte zu einer engen Kooperation zwischen sektoriellen und regionalen Eliten, obwohl diese nicht selten voneinander abweichende Interessen vertreten. Einige Beobachter haben das schweizerische System der «Corporate Governance» deshalb als «Alpenfestung» charakterisiert: Vom Ersten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre wurde Ausländern der Zugang zur Spitze von Schweizer Grossunternehmen erschwert oder ganz verwehrt. Diese relative Abschottung war in einem gewissen Sinn paradox, fand sie doch vor dem Hintergrund einer Öffnung gegenüber den Weltmärkten und einer starken Expansion der multinationalen Konzerne statt.
Das Milizsystem, die geringe Grösse des Landes und die grosse Abhängigkeit von den internationalen Märkten erklären also den Einfluss und die engen Beziehungen zu den anderen Machtsphären, die die Wirtschaftseliten hierzulande haben. In seinem Klassiker über die amerikanischen Eliten führte der Soziologe C.Wright Mills vor 50 Jahren den Begriff der «Machtelite» («power elite») ein, um die Organisation und die Funktionsweise der damals herrschenden Kreise zu erfassen. Mit dem Begriff umschrieb Mills «diejenigen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gruppen […], die als kompliziertes Gebilde einander überschneidender Kreise an allen Entscheidungen von zumindest nationaler […] Tragweite teilhaben».4 Aufgrund ihrer Führungspositionen in den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Einflusssphären zählen diese Akteure zu den wichtigsten Entscheidungsträgern der Gesellschaft. Ohne Zweifel gehören Schweizer Wirtschaftsführer zu einer «Machtelite», wie sie Mills für die USA definierte.
Methode: Wie studiert man Wirtschaftseliten?
Dieses Buch fasst die Ergebnisse des Forschungsprojekts «Die schweizerischen Eliten im 20. Jahrhundert: Ein unabgeschlossener Differenzierungsprozess?» zusammen. Geleitet wurde das vom Nationalfonds finanzierte Projekt von André Mach und Thomas David. Im Rahmen des Projekts entstand eine umfangreiche Datenbank mit Angaben zu Personen, die in den Jahren 1910, 1937, 1957, 1980, 2000 und 2010 Führungspositionen in Wirtschaft, Politik und Verwaltung bekleideten. Die in diesem Buch präsentierten Daten und Analysen stützen sich auf diese Datenbank.5 Im von uns verwendeten Ansatz der Kollektivbiografie entsteht Geschichte auf der Basis von systematisch gesammelten Indikatoren zu einer sozialen Gruppe, die nach einheitlichen und transparenten Kriterien ausgewählt wurde.
Was ist im Folgenden unter Wirtschaftseliten zu verstehen? Ob eine Person zu dieser Gruppe gehört, wird über die Machtposition bestimmt, die sie besetzt. Als Wirtschaftseliten bezeichnen wir also die Führungspersonen der wichtigsten Schweizer Unternehmen, aber auch die Vorstandsmitglieder der wichtigsten Unternehmerverbände, welche in der Schweiz eine Schlüsselrolle spielen.
Wie identifizierten wir diese Individuen? Wir wählten zunächst für jedes der Stichjahre mittels einer Kombination von Umsatz, Börsenkapitalisierung und Anzahl Beschäftigte die 110 wichtigsten Unternehmen aus.6 Darauf identifizierten wir die operativen Führungskräfte (Generaldirektor, Delegierter und Präsident des Verwaltungsrats) sowie die Verwaltungsratsmitglieder dieser Firmen. Dabei gilt es zu beachten, dass das Schweizer Recht den Unternehmen einen grosszügigen Handlungsspielraum lässt, wie sie ihre Organisation gestalten. Historisch betrachtet bildet der Verwaltungsrat das wichtigste Organ, denn er ist gleichzeitig für die strategische Ausrichtung und die operative Geschäftsführung zuständig. Allerdings werden die ausführenden Funktionen meist einer separaten Generaldirektion oder Delegierten übertragen, die an den Verwaltungsratssitzungen teilnehmen und mit der operativen Leitung der Gesellschaft betraut sind.
Je nach Kapitel und behandelter Thematik verwenden wir eine andere Stichprobe:
Für die leitenden Direktoren haben wir detaillierte biografische Angaben zur sozialen Herkunft, dem Geschlecht, der Nationalität, der Ausbildung, dem militärischen Rang, dem Karriereverlauf sowie den verschiedenen wirtschaftlichen und politischen Mandaten gesammelt. Für jedes Unternehmen haben wir den Verwaltungsratspräsidenten und den Generaldirektor (oder den Verwaltungsratsdelegierten) erfasst. Diese Informationen dienen unserer Kollektivbiografie als Grundlage (siehe im Besonderen erster Teil und Kapitel 9).
Für die Verwaltungsratsmitglieder mussten wir uns, wegen der Grösse der Gruppe, auf die Kriterien Geschlecht, Nationalität sowie wirtschaftliche und politische Mandate beschränken und konnten keine detaillierteren Analysen durchführen.
Basierend auf der Zusammensetzung der Verwaltungsräte konnten wir Netzwerkanalysen zu den Verflechtungen zwischen den Firmen erstellen (Kapitel 5 und 10).
Schliesslich haben wir die Mitglieder der Leitenden Ausschüsse und die festangestellten Sekretäre der wirtschaftlichen Spitzenverbände erhoben: der Economiesuisse (vormals Schweizerischer Handels- und Industrieverein SHIV), des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV), des Zentralverbands Schweizerischer Arbeitgeber-Organisationen (ZSAO, heute Schweizerischer Arbeitgeberverband SAV), sowie des Schweizerischen Bauernverbands (Kapitel 6–8 und 11).
Für die Erhebung dieser Informationen waren uns – um nur die wichtigsten zu nennen – die folgenden Quellen und Nachschlagewerke besonders dienlich: das Historische Lexikon der Schweiz (HLS), die Diplomatischen Dokumente der Schweiz (Dodis), die Firmendokumentationen des Schweizerischen Wirtschaftsarchivs in Basel, aber auch die Reihe Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik.
Erster Teil
Wie wird man Wirtschaftsführer?
Die Schweiz blieb von den beiden Weltkriegen weitgehend verschont und war während des 20. Jahrhunderts durch eine hohe soziale und politische Stabilität geprägt. Diese zwei Faktoren begünstigten das Wachstum der wichtigsten Unternehmen im Land. Auch das soziologische Profil der Schweizer Wirtschaftsführer zeichnete sich