Kapitel 10: Neuausrichtung der unternehmerischen Machtnetze
Der Niedergang des Schweizer Unternehmensnetzwerks
Von der Koordination zur Konkurrenz
Die Verstärkung transnationaler Netzwerke
Kapitel 11: Neue Spannungen in der Wirtschaftselite
Neue Gräben in der Unternehmerschaft
Schwächung der ausserparlamentarischen Kommissionen – Stärkung der Verwaltung
Professionalisierung des Parlaments und neue Formen der Interessenvertretung
Schluss: Transnationalisierung und Fragmentierung der Schweizer Wirtschaftseliten
Das Netzwerk der Personenverflechtungen zwischen den 110 grössten Schweizer Firmen
Grafik 1: 1910
Grafik 2: 1980
Grafik 3: 2010
Einleitung
«Die grossen Familien, welche Geschichte gemacht haben, die Willes, Sprechers, Bührles, Sulzers, Ballys, Boveris etc. haben kein Interesse daran, ihre jüngsten Vergangenheiten ans Licht kommen zu lassen. Die Legalität ist dabei auf ihrer Seite, der Privatbesitz an Archivmitteln bekanntlich gesetzlich geschützt, so gut wie der Privatbesitz an Produktionsmitteln.»1
Ende der 1980er-Jahre schilderte Niklaus Meienberg im Detail die Schwierigkeiten, auf die er stiess, als er eine Biografie Ulrich Willes verfassen wollte. Der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg sympathisierte offen mit dem deutschen Kaiserreich und war das berühmteste Mitglied eines in Armee und Wirtschaft einflussreichen «Clans».
Viele Faktoren hemmten die Erforschung der Wirtschaftseliten. Schwer zugängliche Informationen etwa und ein ideologisches Klima, das Diskretion zur Tugend verklärt und den Mythos einer demokratischen und egalitären Schweiz hochhält. Das heisst nicht, dass überhaupt keine Studien vorliegen. Doch beschäftigte sich die Geschichtswissenschaft in der Schweiz bisher vor allem mit den privilegierten Gesellschaftsklassen des Ancien Régime und mit dem Patriziat einiger Städte. Wo sie die jüngere Vergangenheit in den Blick nahm, konzentrierte sie sich auf spezifische Branchen oder auf Biografien der grossen «Unternehmer», welche die Erfolgsgeschichte der Schweiz prägten. Aber gerade Schlüsselbranchen der Schweizer Wirtschaft wie der Banken- und Versicherungssektor wurden vernachlässigt, weil es keinen Zugang zu den Archiven gab. Unbestritten ist, dass eine Gesamtsicht auf die Wirtschaftseliten des 19. und 20. Jahrhunderts fehlt; eine «Kollektivbiografie» dieser mächtigen Sozialgruppe bleibt ein Desiderat.2 Es gab zwar entsprechende Versuche, doch fehlte ihnen entweder die empirische Grundlage, oder sie waren stark ideologisch gefärbt.
In den 1930er- und 1940er-Jahren prangerten linke Gewerkschafter, Journalisten und Intellektuelle die Macht der Wirtschaftseliten an. Georges Bähler alias Pollux (1895–1982) untersuchte die wechselseitige Durchdringung von Wirtschaft und Politik. In einer 1944 publizierten Arbeit zeigt er, dass das Land von 200 Familien beherrscht wird, von denen viele zur alten Aristokratie und dem Patriziat gehören. 1965 beauftragte der Bundesrat den Zürcher Rechtsanwalt Georg Gautschi damit, einen Bericht über die Notwendigkeit einer Reform des Aktienrechts zu verfassen und entsprechende Vorschläge zu erarbeiten. Im Jahr darauf legte Gautschi einen mehr als 700 Seiten umfassenden Rapport vor, in dem er die Funktionsweise der Schweizer Grossunternehmen scharf kritisierte. Die Wirtschaftseliten, urteilt er darin, würden einen verschworenen Zirkel bilden und in den Firmen oft wenig demokratisch handeln: «Vererbung und Heirat in Unternehmerkreisen und die Verflechtung gleichartiger Interessen haben bewirkt, dass ein relativ kleiner Kreis von Personen die Verwaltungsratspositionen in den bedeutenden Unternehmungen besetzt […]. Der Kreis erweitert sich da und dort durch Bankenvertreter, die seltener auf Grund von Kreditgewährung als auf Grund der Stimmkraft von Depotkunden oder verwalteten Anlagefonds beigezogen werden.»3 Die betroffenen Milieus reagierten heftig, und der Bericht wurde nie publiziert, aus Angst, er könne eine «öffentliche Polemik» auslösen.
In den 1970er-Jahren hinterfragten mehrere kritische Darstellungen den Aufstieg des «helvetischen Imperiums» seit dem 19. Jahrhundert. Im Lauf des 20. Jahrhunderts hatte sich die Schweiz zu einer blühenden Volkswirtschaft entwickelt, deren Motor unzählige, in der ganzen Welt präsente, multinationale Konzerne waren. Autoren wie Lorenz Stucki oder François Höpflinger beklagten, dass die wirtschaftliche Macht in den Händen eines sehr kleinen Kreises konzentriert war, der im Wesentlichen aus «grossen» Familien bestand, die die wichtigsten Schweizer Firmen mit strategischen Aktienpaketen kontrollierten. Diese Analysen lieferten zwar wertvolle Informationen, blieben aber sehr allgemein. Weil es von einigen Ausnahmen abgesehen kaum weiterführende und vertiefende Studien gab, blieb die Erforschung der Wirtschaftseliten nach diesen Pionierwerken ohne Fortsetzung.
Zwar gibt es Anzeichen, dass es einfacher geworden ist, über die Schweizer Wirtschaftseliten zu forschen und zu schreiben: Das Internet macht viele Informationen über Unternehmen öffentlich zugänglich. Dasselbe gilt für die «Rankings», beispielsweise die Rangliste der 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer, die das Magazin «Bilanz» seit 1989 jährlich zusammenstellt. Zudem müssen die Konzerne heute transparenter informieren, um die Anleger an den Börsen zu befriedigen – das geht so weit, dass die Löhne und Boni der meisten Verwaltungsratspräsidenten und CEOs heute bekannt sind. Dennoch: Liest man die (Wirtschafts-)Presse, staunt man noch immer über die häufig hagiografische und oberflächliche Berichterstattung über die Wirtschaftseliten. In ganzen Artikeln werden die Geschäftsstrategien der Wirtschaftsführer, ihre persönlichen Verdienste oder ihr philanthropisches Engagement gepriesen. Ein beliebtes Thema ist der Leistungskult der Spitzenmanager. Viel Tinte wird vergossen, um ihre sportlichen Exploits – etwa im Lauf- und Wassersport – oder ihren höllischen Arbeitsrhythmus herauszustreichen. Die Aussage, man beginne den Arbeitstag um 4 oder 5 Uhr morgens, ist zur obligaten Passage jedes Interviews mit einem Wirtschaftsführer geworden.
Nichts oder kaum etwas ist dagegen über die Bedingungen und Umstände zu erfahren, die den Erfolg der Spitzenkader erklärten. Es entsteht der Eindruck, der Erfolg der Entscheidungsträger sei allein ihren – gewiss oft grossen – persönlichen Fähigkeiten und Verdiensten zu verdanken. Die sozialen Mechanismen, die ihren Aufstieg erleichterten, werden verschwiegen. Dazu zählen das Familienvermögen, Studien an prestigeträchtigen