Paul Celan (1920–1970) schreibt – und dieses Gedicht stammt aus seinem Nachlassband Zeitgehöft –
DAS FREMDE
hat uns im Netz,
die Vergänglichkeit greift
ratlos durch uns hindurch,
zähl meinen Puls, auch ihn,
in dich hinein,
dann kommen wir auf,
gegen dich, gegen mich,
etwas kleidet uns ein,
in Taghaut, in Nachthaut,
fürs Spiel mit dem obersten, fallsüchtigen Ernst.
Das Fremde/hat uns im Netz – Da ist etwas, was wir nicht kennen und nicht aufschlüsseln können, das uns gefangen hält wie in einem Netz. Es wird zur Frage. Oft ist dieses Fragezeichen an das Fremde – egal ob aus Angst vor einer geheimen Bedrohung oder aus Lust, es zu verstehen – der Beginn einer geistlichen Begleitung. Da sucht jemand nach einem Menschen, der ihm hilft zu verstehen und dadurch das Netz des Gefangenseins aufzulösen. Und dann Gott in den Blick zu nehmen, von dem der Beter in Psalm 124 sagt: »Unsere Seele ist wie ein Vogel dem Netz […] entkommen; das Netz ist zerrissen und wir sind frei« (Psalm 124,7).
Es ist eine Grundbefindlichkeit, dass das Fremde uns im Netz hat, in dem wir uns einfach erstmal vorfinden. Jedes Lernen, jeder Schritt, den wir tun, konfrontiert uns mit Fremdem und indem wir das Fremde aufmerksam anschauen, zerreißt das Netz und wir sind frei.
die Vergänglichkeit greift/ratlos durch uns hindurch – wir wissen, dass wir vergänglich sind, dass es ein Ende unseres Lebens hier auf der Erde gibt. Und es gibt Situationen, in denen sich dieses Wissen der eigenen Vergänglichkeit unausweichlich aufdrängt. Doch wir neigen dazu, es anschließend wieder in den Hintergrund zu drängen und es versuchen zu vergessen. Wie ein Geist greift die Vergänglichkeit gespenstisch durch uns hindurch – ratlos, da wir sie nicht wirklich konkret werden lassen in unserem Bewusstsein. Geistliche Begleitung wird auch das immer wieder im Blick haben, dass die Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit nicht gespenstisch und rein theoretisch geschieht, sondern in unserem Alltag konkrete Ansätze hat.
Es geht nicht darum, über Verletzungen einfach hinwegzugehen oder Negatives in rosa Licht zu tauchen oder einfach alles auf mich zu nehmen. Sondern es geht um die Entscheidung, in dem, was da wehtut, zu bleiben und damit zu arbeiten.
Wie auch immer man über die fünf Sterbephasen denkt, die Elisabeth Kübler-Ross für den Sterbeprozess formulierte, so sind sie mir doch mal in meinem Alltag sehr konkret geworden: das Nicht-wahrhaben-wollen, das Abstreiten. Dann Zorn und Ärger, worauf eine Phase des Verhandelns folgt. Dann eine depressive Phase und schließlich die Zustimmung. Und ich habe im Rückblick erfahren, dass das Einüben dieser Phasen nicht erst im Sterben beginnt, sondern im Lebensalltag. Jemandem vergeben, der mich verletzt hat, gleicht dem Sterbeprozess. Es geht nicht darum, über Verletzungen einfach hinwegzugehen oder Negatives in rosa Licht zu tauchen oder einfach alles auf mich zu nehmen. Sondern es geht um die Entscheidung, in dem, was da wehtut, zu bleiben und damit zu arbeiten.
Nach einer Auseinandersetzung, die in mir viele wunde Stellen zurückließ, nahm ich rückblickend zunächst in mir das Abstreiten wahr. Ich wollte nicht wahrhaben, dass die schwierige Situation wirklich mit mir zu tun hatte. Daraus kam der Ärger auf den anderen und ich richtete meine Aggression nach außen. Dann folgte die Phase des Verhandelns, in der ich zu Kompromissen bereit, aber innerlich noch nicht bei mir angekommen war. Schließlich kam ich nicht umhin, die Realität anzuerkennen und richtete meine Aggression gegen mich selbst, fiel in eine depressive Stimmung. Die ging dann über in die Zustimmung zur Wirklichkeit, wie sie sich mir in diesem ganzen Prozess erschlossen hatte. Ich konnte aufrichtig anschauen, was mein Anteil an dieser schwierigen Situation war, auch mir selbst verzeihen und war im Frieden mit mir und dem anderen. Ein neuer Anfang war möglich, der nicht darin bestand, einfach zu vergessen, was war, sondern der aus dem Frieden mit mir selbst erwuchs. Vielleicht könnte es dem Tod als dem Fremden schlechthin den Schrecken nehmen, wenn wir in kleinen Alltagsschritten unserem eigenen Sterben ein wenig nachspüren, damit die Vergänglichkeit und meine Endlichkeit die gespenstischen Konturen verliert.
zähl meinen Puls, auch ihn,/in dich hinein – Auch wenn es gefangen im Netz offensichtlich ein »uns« gibt, geht es doch immer wieder um jeden Einzelnen. Damit ich nicht im Netz der Fremdheit mit dem anderen hängen bleibe, braucht es gegenseitige Wahrnehmung. »Zähl meinen Puls, auch ihn, in dich hinein« weckt in mir das Bild von einer achtsamen Zuwendung zum anderen, der mir fremd ist. Seinen Puls in mich hineinzählen, könnte bedeuten, dass ich seinen Lebensrhythmus, seinen Herzschlag in mir zulasse und ihm in meinem Herzen einen Echoraum öffne. Wenn das Herz des anderen wie ein Echo in meinem Herzen schlägt, ist das Netz des Fremdseins zerrissen und wir sind frei miteinander und voreinander.
dann kommen wir auf,/gegen dich, gegen mich, – das klingt auf den ersten Blick etwas kriegerisch oder zumindest trennend. Aber so ist das tatsächlich oft: auch wenn wir einander so nah sind, dass wir den Herzschlag des anderen in uns zählen, bleibt ein Raum persönlicher Einsamkeit, der in großer menschlicher Nähe umso schmerzlicher ist. Manchmal gilt es, das eigene Fremdsein und das des anderen zu ertragen und damit auch die Einsamkeit auszuhalten, die das mit sich bringt. Einsamkeit, die durch eine schwere Krankheitsdiagnose hervorgerufen wird; oder durch den Tod eines geliebten Menschen; einsam ist derjenige, der seinen Partner in dessen Demenz annehmen muss und darin den verliert, der für ihn vielleicht ein halbes Leben lang Gesprächs- und Lebenspartner war. Der Schriftsteller und Psychologe Manès Sperper beschreibt die Einsamkeit als einen »Zustand, der dem Gesicht eines Fremden einen Ausdruck verleiht, der wie ein Hilferuf aus einem Kerker ohne Mauern dringt, in dem gefangen sitzt, wer fortwährend allein ist.«3 Es geht um eine Einsamkeit, die das ganze Leben durcheinanderbringt und in seinen Grundfesten erschüttert, wenn ich mir selbst fremd geworden bin. Was trägt noch?
etwas kleidet uns ein,/in Taghaut, in Nachthaut,
fürs Spiel mit dem obersten, fall-/süchtigen Ernst.
Da steigt in mir Psalm 22 auf, das Gebet eines einsamen Menschen:
2Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, * bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens?
3Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; * und bei Nacht, doch ich finde keine Ruhe.
Tag und Nacht rufe ich zu Ihm, der doch mein Gott war, und bekomme keine Antwort, finde keine Ruhe in meinem Suchen nach Ihm. Dunkel, verlassen, wortlos. Es geht da nicht weiter, wo es bisher immer weiter ging. Ist da schon Stillstand? Ende? Habe ich mich vertan, als ich Ihm vertraute? Stimmt das alles gar nicht, was ich mein Leben lang geglaubt habe?
Eingekleidet in Taghaut, in Nachthaut – die Haut ist der Schutzmantel unseres Körpers und zugleich die Berührungsstelle im Kontakt mit anderen. Die Taghaut ist anders als die Nachthaut: tagsüber bin ich wach, achte auf das, was mich umgibt, was mich berührt; nachts habe ich darüber keine Kontrolle, wenn die Träume unter die Haut gehen und die Dunkelheit die Nachthaut dünn schleift.
Der Psalmist betet weiter:
7Ich … bin ein Wurm und kein Mensch, * der Leute Spott, vom Volk verachtet.
8Alle, die mich sehen, verlachen mich, * verziehen die Lippen, schütteln den Kopf:
9Wälze die Last auf den HERRN! Er soll ihn befreien, * er reiße ihn heraus, wenn er an ihm Gefallen hat!
Ja, manchmal ist das so: da bin ich eingekleidet für das Spiel mit dem obersten Ernst, der immer zum