Von der Paradoxie des Streites, dass er ebenso konsenserzeugend wie dissensverstärkend wirken kann, wird man in der Theologie rasch eingeholt, wenn man etwa die These vertritt, es sei eine für das Christsein ausschlaggebende Überzeugung, dass es unter den Menschen keine Verschiedenheit gibt, die nicht von einer je größeren Gemeinsamkeit umgriffen wird. Entscheidend christlich sei demnach, das zu benennen, was alle Menschen eint und sie einander gleich macht: ihre Mitgeschöpflichkeit, ihre Gottebenbildlichkeit, ihre Stellung als Adressaten des universalen Heilswillens Gottes. Wer dies für den Kern des Christentums hält, macht bald die Erfahrung, dass die Berechtigung dieser These in Zweifel gezogen wird. Selbst in der theologischen Zunft besteht Uneinigkeit darüber, ob man als die Mitte des Glaubens etwas identifizieren soll, was uneingeschränkt auf alle Menschen zutrifft und nicht bloß für Christen gilt.11 Hier stößt man vielfach auf die Überzeugung, dass die Identität des Christentums zunächst an Alleinstellungsmerkmalen festzumachen ist. Und diese Merkmale seien durch Unterschiede und Unterscheidungen zu ermitteln.12 Das entscheidend Christliche muss demnach etwas sein, was Christen von anderen Religionen und Gemeinschaften unterscheidet, d. h. sie müssen etwas vorweisen können, was anderen fehlt. Nicht-Christen bezweifeln und bestreiten hingegen, dass ihnen etwas Entscheidendes fehlt, wenn und weil sie keine Christen sind. Weil ihnen nichts fehlt, halten sie den christlichen Glauben für überflüssig, entbehrlich, verzichtbar. Wer ihnen etwas aufzeigen will, das allen Menschen gemeinsam ist und sie eint, wird daher nichts Christliches, nichts Religiöses anführen dürfen. Was dabei aus jeglicher Theologie wird, ist leicht absehbar: allenfalls Anthropologie.
Mit den Vertretern beider Auffassungen sucht dieses Buch Streit. Es ist auf eine Auseinandersetzung mit jenen theologischen und philosophischen Positionen aus, die das Besondere und Entscheidende des Christentums im Blick auf die säkulare Kultur oder andere Religionen über eine Hermeneutik des Dissenses und über die Logik des Trennens, Ausscheidens und Ausschließens oder im Gestus des Überbietens sichern wollen und – gepaart mit einem modernitätskritischen Impetus – dabei einen sublimen Fundamentalismus befördern.13 Es sucht ebenso die Konfrontation mit jenen säkularen Positionen, für die ein kulturell intolerantes, moralisch abgewirtschaftetes, politisch korrumpiertes und spirituell erkaltetes Christentum von seinen „Geburtsfehlern“ zeugt. Sie haben unter die Christentumsgeschichte einen Schlussstrich gezogen und hegen keinen Religionsbedarf mehr. Ein abhanden gekommener Glaube hinterlässt bei ihnen keine Leerstelle. Sie vermissen nichts.14 Wem nichts fehlt, hat offensichtlich alles, was nötig ist. Was soll dann noch Religion? Wer braucht ein Nachdenken über etwas, das ihm oder ihr nicht fehlt? Wozu dann auch noch oder überhaupt Theologie?15
Zum Verdacht ihrer eigenen Unerheblichkeit und – schlimmer noch – zum Plädoyer auf die Verzichtbarkeit christlicher Rede von Gott hat die Theologie allerdings selbst beigetragen. Ihr Vielwissertum ist dieser „Wissenschaft vom lieben Gott“ zum Verhängnis geworden.16 Lange Zeit rühmt sie sich, verbindlich Auskunft über Gott geben zu können. Im Rahmen einer Welterklärungstheorie ortet sie ihn als Grund aller Wirklichkeit. Und als solcher garantiert er auch eine Ordnung der Werte und Normen. Die Theologie weiß um Gottes Eigenschaften – ewig, allmächtig, allgegenwärtig, allgütig. Und sie kennt auch seinen bisweilen wechselnden Gemütszustand: zornig, barmherzig, eifernd, geduldig. Die Theologie führt darüber Buch, wann und wem Gott sich offenbart und was er von den Menschen will. Sie katalogisiert, archiviert und dokumentiert präzise, was jemals für Christen verbindlich über Gott gesagt wurde. Aber genau hier beginnen die Probleme. Die überkommene Rede von Gott findet seit geraumer Zeit keine Resonanz mehr.17
Das Echo ist nur noch schwach, wenn beim Nachdenken über die Entstehung der Welt, über die Bedingungen der Erkenntnis und über die Gründe der Moral Gott ins Spiel gebracht wird. Viele Zeitgenossen finden überzeugende Antworten, ohne dass sich dabei der Gedanke an die Existenz Gottes, an seine Allmacht und seine Güte nahelegt. Es geht auch ohne die „Hypothese Gott“. Das Bild eines allmächtigen und guten Gottes will zudem nicht passen zu einer Welt, die seine Schöpfung sein soll und dennoch für viele Geschöpfe ein Ort des Grauens ist.18
Wo die christliche Gottesrede keinen Nachhall mehr findet, spricht sie ins Leere. Was sie behauptet, ist offenkundig nicht mehr von Relevanz. Wie lange aber kann man einen Glauben aufrechterhalten, wenn sich nicht mehr begründen lässt, warum er den Vorzug verdient gegenüber der Maxime säkularer Zeitgenossen, die leben als ob es Gott nicht gäbe („etsi deus non daretur“)? Diese Maxime steht für eine Entwicklung, die vor 200 Jahren begonnen hat. Die kulturellen Plausibilitäten unserer Zeit – der Moderne – stehen im Zeichen der Verpflichtung, sich in Fragen der Wirklichkeitserkenntnis und der Lebensgestaltung nur den Imperativen der (autonomen) Vernunft zu unterstellen. Was in der Welt geschieht, ist aus ihr selbst, aus ihren eigenen Entwicklungsgesetzen und Antriebskräften erklärbar. Weder für das Denken noch für das Tun des Menschen scheint der Gottesgedanke etwas zu bezeichnen, das als unabweisbare Voraussetzung seines Denkens und Handelns angesprochen werden muss. Folgt man dem Anspruch der Aufklärung, dann darf es hierzu auch keine Alternative geben. Oberste Instanz verantwortlicher Lebensführung, zuverlässiger Weltorientierung und unhintergehbarer Erkenntnisbegründung muss die Vernunft in ihrer Autonomie sein. Ihre Autonomie verlangt den Widerspruch gegen die Behauptung, dass die Vernunft nochmals eine Autorität über sich habe, von der sie Wahrheiten entgegenzunehmen habe. In Fragen der Erkenntnis und Gestaltung der Welt gilt es, sich nur den Imperativen der Vernunft zu unterstellen. Was mit den Mitteln der Vernunft zureichend bewältigt werden kann, darf nicht an eine andere Instanz delegiert werden.
Daher steht die Moderne nicht allein im Zeichen der Autonomie der Vernunft, sondern auch im Zeichen des „Gottesverzichts“. Sie vertritt hinsichtlich aller Lebensbereiche und Handlungsfelder des Menschen eine „säkulare Option“.19 Der faktische Lauf der Welt gibt ihr Recht. Er bestätigt kontinuierlich die Annahme von Gottes Nicht-Notwendigkeit zur Erklärung innerweltlicher Abläufe und Sachverhalte. Die Welt ist erklärbar ohne Gott und der Mensch kann menschlich sein ohne Gott. Auf Gott lässt sich verzichten, weil man nicht sieht, was einen Gott, der als moralische, naturwissenschaftliche, politische Arbeitshypothese abdanken musste, von einem Gott unterscheidet, den es gar nicht gibt. Wo, wie und wer Gott sei, wird für eine derart Gott los gewordene Zeit offenkundig zu einer müßigen Frage. Sie scheint nur für die Müßiggänger der Vernunft noch reizvoll zu sein.
Gegen die Bestreitung allen sinnvollen Redens von Gott anzugehen kann wiederum nur im Modus der Bestreitung geschehen. Gegen ein selbstgewisses „so und nicht anders“ der Verfechter und der Verächter des Glaubens an Gott setzt eine Theologie der Bestreitung ein kritisch-konstruktives „nicht so, sondern anders“! Zwar muss auch sie ausgehen von den modernen Verneinungen der innerweltlichen Notwendigkeit Gottes. Aber sie wird ebenso in Abrede stellen müssen, dass man von Gott nur derart angemessen reden kann, dass er zur Erklärung innerweltlicher Probleme oder zur Bewältigung innerweltlicher Verlegenheiten herangezogen wird. Ihre Devise lautet: Es ist Zeit für das Wagnis, Gott mit einer Welt zusammen zu denken, die für sich beansprucht, ohne Gott verstehbar und gestaltbar zu sein. Denn wer heute von Gott reden will, muss zugleich von der Welt sprechen, soll diese Rede nicht geschichts- und kontextlos sein. Heute von Gott zu reden heißt zugleich, von einer Welt zu reden, deren Verfassung und Selbstverständnis es nötig machen, die Welt ohne Gott zu denken.
Wer dieses Wagnis eingeht, begibt sich in eine doppelte Gegenposition – zum einen gegenüber einer theologischen Tradition, die überfrachtet ist mit dem Anspruch, über Gott und seine Notwendigkeit für den Menschen so sehr Bescheid zu wissen, dass sie besserwisserisch auftritt. Sie redet unablässig in Behauptungssätzen von Gottes Nähe, hat aber kein Verständnis für alle Zeitgenossen, die in der Gegenwart nichts mehr von dieser Nähe spüren oder – schlimmer noch – denunziert ihren Zweifel, ihre Anfechtungen, ihren Gottesverlust als Ausdruck mangelnder Glaubensstärke. Das andere „Nein“ gilt einer Auffassung, für die ein Gottesverhältnis nur sinnvoll ist, wenn es dazu verhilft,