Diese Problematik wird dadurch verschärft, dass die christliche Theologie behauptet hat, dass Gott „unbegreiflich“ sei: Nach christlichem Verständnis ist Gott „der eine, wahre und lebendige Schöpfer des Himmels und der Erde, allmächtig, ewig, unermesslich, unbegreiflich, unendlich in Erkennen und Wollen und jeder Vollkommenheit. Weil er eine einzige, für sich bestehende, ganz und gar einfache und unveränderliche Geistwirklichkeit ist, ist von ihm auszusagen: Er ist wirklich und wesenhaft von der Welt verschieden, in sich und aus sich heraus überaus selig und über alles unaussprechlich erhaben, was außer ihm ist und gedacht werden kann“ (Vaticanum I/DH 3001).48
Nur jene Wirklichkeit verdient also in Wahrheit „Gott“ genannt zu werden, die nicht zum Bestand des (Inner-)Weltlichen zählt, sondern davon in Wirklichkeit und von ihrem Wesen her verschieden ist. Daher entzieht sie sich auch der Möglichkeit, unter Ausschöpfung aller sprachlichen Ausdrucksformen sagen zu können, wie sie „an und für sich“ ist. Damit wird nicht etwa nur eine vollkommene Begreifbarkeit Gottes bestritten (wie man von einem riesigen Gebäude – je näher man ihm kommt – immer nur einen Ausschnitt fotografieren kann). Vielmehr bedeutet die Behauptung der Unbegreiflichkeit Gottes, dass er ganz und gar im Modus feststellender, affirmativer Aussagesätze nicht definiert werden kann. Definitionen dieser Art sind nur möglich hinsichtlich dessen, das „außer ihm“ ist und gedacht werden kann.49
Ein Ausweg aus dieser Problematik könnte darin bestehen, dass man zeigt: Um von Gott sprechen zu können, kann man auf innerweltliche Sachverhalte und Problemlagen verweisen, für deren Erklärung oder Bewältigung der Rekurs auf die Wirklichkeit Gottes unabdingbar ist. Der klassische Weg der „demonstratio religiosa“ zur Bildung eines konsistenten Gottesbegriffs bestand darin, die Frage, was dieses Wort „in Wahrheit und in Wirklichkeit“ bedeutet, im Zusammenhang mit besonderen Konstellationen der menschlichen Daseinserfahrung zu klären. Dabei wurde von unstrittigen Sachverhalten (z. B. von kontingenten Weltereignissen) ausgegangen, die in eine Argumentation eingingen, deren Akzeptanz unabhängig von jedem Glauben ein Gebot der Vernunft darstellt und am Ende dazu führen sollte, dass zwischen Denkenden und Glaubenden ein rationales Einverständnis hinsichtlich der widerspruchsfreien Vertretbarkeit des Gottesgedankens entsteht. Das dem Glauben Selbstverständliche sollte durch Argumente einsichtig gemacht werden, deren Akzeptanz allein rational motiviert ist.50
1. Verluste – oder:
Wenn der Wert des Wortes „Gott“ aufgezehrt ist
In der Moderne ist jedoch höchst fragwürdig geworden, ob eine vernunftgeleitete Wirklichkeitserfahrung und -deutung zur Erkenntnis eines innerweltlichen Verweisungszusammenhangs führen kann, der „über die Welt hinaus“ führt, so dass im Rahmen einer Welterklärungstheorie das „erste Unbewegte, aber alles Bewegende“, der letzte und weltjenseitige Grund alles Seienden und als solcher auch der Garant einer Ordnung der Werte und Normen aufscheint, dem in der religiösen Sprache das Wort „Gott“ entspricht. Die Voraussetzungen für solche Füllungen des Wortes „Gott“ sind weitgehend weggebrochen. Jede für unbezweifelbar gehaltene Prämisse menschlichen Denkens, Wollens und Tuns, die etwa in den kosmologischen, wahrheitstheoretischen, axiologischen oder ontologischen Gottesbeweis einging,51 lässt sich seit I. KANTS „Kritik der reinen Vernunft“ (KrV B 620–658) mit guten Gründen in Frage stellen. Seitdem steht die Auffassung, das Bemühen der (theoretischen) Vernunft um eine widerspruchsfreie Beschreibung der Welt und ihres Herkommens könne ohne religiösmetaphysische Zusatzannahmen nicht erfolgreich sein, auf sehr schwachem Fundament. Es ist höchst fraglich, ob die Theologie noch einen objektiven innerweltlichen Sachverhalt oder Tatbestand entdecken kann, über den sie den Gottesglauben hinsichtlich seiner „Gegenstandsfähigkeit“ verifizieren kann.
Gegen diese Möglichkeit spricht auch das normative Selbstverständnis der Moderne und das Resultat von vernunftgeleiteten Modernisierungsprozessen: Für die Erklärung der Entstehung der Welt, für die Begründung moralischer Normen, für die Legitimation politischer Herrschaft, sogar für die Sinnstiftung des Daseins ist Gott bzw. der Rekurs auf Gott nicht mehr notwendig (d. h. unabdingbar, zwingend, alternativenlos), sondern hierfür stehen längst funktionale Äquivalente zur Verfügung.52 Sinnerfüllung lässt sich etwa finden in einem Beruf, der Selbstverwirklichung und soziale Wertschätzung bietet. Manche Menschen sehen eine Sinnperspektive auch darin, sich für ein Projekt zu engagieren, das ihr Leben überdauert. Während für die einen Sinn etwas ist, das man dem Leben selbst geben muss, besteht er für andere darin, etwas vom Leben zu haben: „Handele so, dass du am Ende deines Lebens sagen kannst, das Maximum aus deiner Lebenszeit herausgeholt zu haben!“
In all diesen Bereichen kann der Mensch agieren „etsi deus non daretur“. Für die Moderne gilt es als ausgemacht, dass jetzt für den Menschen die Zeit gekommen ist, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen und sich nicht mehr in der Hand eines anderen zu wissen. Es ist an der Zeit, selbst den Lauf der Welt zu bestimmen, Herr und Meister der Natur zu werden, selbst Geschichte zu schreiben. Diese Überzeugung macht vor der Religion nicht Halt. Es beginnt das Experiment, dass die Grundsituation der Welt zureichend „ohne Gott“ bestimmbar ist. Dieses Experiment erweist sich – auch theologisch – als höchst folgenreich.
2. Konsequenzen – oder:
Wenn Gott im Horizont der Welt nicht mehr nötig ist
Die Moderne weist den Menschen in die Welt zurück, nicht über sie hinaus. Weder für das Denken noch für das Tun des Menschen scheint der Gottesgedanke also etwas zu bezeichnen, das als „conditio sine qua non“ seines Denkens und Handelns angesprochen werden muss. Die Autonomie der Naturerkenntnis und der soziokulturellen Sachbereiche (Wissenschaft, Wirtschaft, Technik) macht die Hypothese „Gott“ zur Erkenntnis und Gestaltung von Natur und Gesellschaft überflüssig. Die Welt versteht sich von selbst und funktioniert ohne sein Eingreifen oder Zutun. Es geht auch ohne ihn. Es ist geradezu ein Unterscheidungsmerkmal moderner und vor-moderner Welterklärungskonzepte, ob darin noch die Größe „Gott“ auftaucht. Aus der Möglichkeit der Weltinterpretation und Weltgestaltung ohne Gott macht die Moderne die Notwendigkeit der Weltbewältigung ohne Gott – um der Autonomie der theoretischen wie der praktischen Vernunft willen. Ein Gott, auf den man für nichts mehr angewiesen ist, ist aber offenkundig kein „göttlicher“ Gott mehr. Wenn es für die Bewältigung innerweltlicher Problemlagen funktionale Äquivalente gibt, ist Gott ersetzbar geworden. Wofür es Ersatz gibt, das ist verzichtbar und entbehrlich. Ein verzichtbarer und entbehrlicher Gott ist aber kein „richtiger“ Gott, und darum kann das Reden von seiner Notwendigkeit auch nicht mehr richtig sein. Wenn Christen angesichts dieses Umstandes dennoch ihre Gottesrede fortsetzen, erbringen sie erst recht den Nachweis, dass sie eigentlich nichts Rechtes zu sagen haben.
Wenn sich die Theologie dieser resignativen Schlussfolgerung nicht anschließen und ihre Frage nach Gott nicht aufgeben will, kommt sie gleichwohl an dem Befund der innerweltlichen Nicht-Notwendigkeit Gottes nicht vorbei. Die Frage nach Gott kann nur im Kontext einer Gott los gewordenen Welt redlich gestellt werden. Ehe theologisch von der Weltzugewandtheit Gottes gesprochen werden kann, will die Gottabgewandtheit der Welt als normative Signatur der Moderne bedacht werden. Die „Gottlosigkeit“ der Moderne und ihr Streben nach Autonomie bedingen einander. Erst in der Verarbeitung dieser Interdependenz ist es möglich, das christliche Reden von Gott wieder denkbar und verantwortbar zu machen. Die Verarbeitung des neuzeitlichen Atheismus und die Formulierung eines christlichen Gottesbegriffs sind somit als zwei voneinander unablösbare Aufgaben zu begreifen.53
47 Vgl. hierzu ausführlicher Ch. BÖTTIGHEIMER, Lehrbuch der Fundamentaltheologie, 320–329 (Lit.); J. WERBICK, Gott verbindlich, 19–37; A. KREINER, Das wahre Antlitz Gottes – oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen, Freiburg/Basel/Wien 2006, 17–31, 111–145 (Lit.); DERS., Ende der Wahrheit? Zum Wahrheitsverständnis in Philosophie und Theologie, Freiburg/Basel/Wien 1992, bes. 475–571.
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