Indem Mekas seiner eigenen Arbeit das Etikett Kunst versagte, betonte er indirekt ihren dokumentarischen Wert. Zugleich nahm er es aus der Schusslinie jener, deren Beruf es ist, Kunst kritisch zu hinterfragen und zu bewerten (wie der Autor Mekas es tat). Mekas war seit seinen Anfängen ein ausgesprochen scharfzüngiger Kritiker, was seinen frühen Village-Voice-Artikeln eine besondere Aufmerksamkeit verschaffte. Anders als viele Filmkritiker, die später Filmemacher wurden – wie etwa François Truffaut, Claude Chabrol, Lindsay Anderson, Peter Bogdanovich, Bertrand Tavernier oder Hans-Christoph Blumenberg –, tauschte er nicht einen Beruf gegen einen anderen. Er verstummte nicht als Kritiker, und auch als er nicht mehr schrieb, hielt er sich mit seinem Urteil über die Werke von Kollegen nicht zurück.
Ohnehin verstanden sich Mekas’ Filmkritiken selten als Betrachtungen von Einzelwerken. Vielmehr lesen sich seine Texte als Bausteine zu einer programmatischen Absicht, seine Idee des Unabhängigen Films in Opposition zur bisherigen US-amerikanischen Experimentalfilmszene zu etablieren. Als Kurator (das Wort lehnte er ebenfalls ab) oder Programmierer der 1962 gegründeten Film-Makers’ Cooperative gab er diesen Ideen eine dauerhafte Präsenz im New Yorker Kinoleben.
Henning Engelke sieht Mekas’ Wirken in Opposition zu dem von Amos Vogel geleiteten Filmclub Cinema 16, der sich seit den 1940er Jahren zu einer Institution der Experimentalfilmszene entwickelt hatte: »Die Konkurrenz beschränkte sich nicht nur auf wirtschaftliche Aspekte; beide Organisationen wetteiferten auch um Filmemacher und Filme. Einer immer wieder vorgebrachten Anekdote zufolge entstand die Idee zur Gründung der Coop aus Vogels Weigerung, Brakhages ›Anticipation of the Night‹ in den Verleih aufzunehmen.«15
Bereits Mitte 1963 stellte das Cinema 16 seinen Vorführbetrieb ein; nun war Mekas’ Film-Makers’ Cooperative das Zentrum der New Yorker Experimental- und Undergroundfilmszene. Damit hatte Mekas’ auch eine beachtliche filmpolitische Meinungsmacht gewonnen. Er stand für ein Kino, das sich nicht formalistisch verstand, sondern auch in einem gesellschaftspolitischen Sinne revolutionär sein sollte: »What’s the use of cinema if man’s soul goes rotten«16, schrieb er 1962 in seinem programmatischen Text Notes on the New American Cinema.
Auch innerhalb der progressiven Experimentalfilmszene fand Mekas formalistische Dogmen und Ausschlusskriterien, gegen die sich opponieren ließ. 1963 zeigte er beim Experimentalfilmfestival im belgischen Knokke Jack Smith’ von der Jury abgelehnten Film FLAMING CREATURES (1963) vor Gästen wie Agnès Varda, Roman Polanski und Jean-Luc Godard in seinem Hotelzimmer. Smith’ Betonung des technisch Unvollkommenen – für viele Vertreter eines fotografisch hochstehenden Experimentalfilms eine Zumutung – entsprach Mekas’ anti-formalistischem Credo. Besonders beeindruckten ihn die tänzerischen Inszenierungen des Filmemachers, für Smith »one of the last and most uncompromisingly great artists our generation had produced.«17 Smith’ unschuldig-erotische Camp-Ästhetik eröffnete der damaligen Experimentalfilmszene eine im künstlerischen Kontext unbekannte Gegenkultur, und darin steckte auch ein gesellschaftlich revolutionäres Potenzial.
Es ist in diesem Zusammenhang von Interesse, dass Mekas’ persönliche filmische Geschmacksbildung vom modernistischen Kanon der großen Formalisten Eisenstein oder Hitchcock abweicht. Prägender waren Begegnungen mit dem italienischen Neorealismus und gesellschaftskritischen Werken von Helmut Käutner und Wolfgang Staudte, die er in der Nachkriegszeit in Deutschland gesehen hatte.18 Auch als Mekas 1958 im Rückblick auf das zurückliegende Kinojahr das britische Free Cinema rühmt, lobt er im selben Text den in den USA kaum bekannten Helmut Käutner für seinen Antikriegsfilm DIE LETZTE BRÜCKE (1954) neben den jüngsten Werken von De Sica und Fellini.
Vor dem Hintergrund der hohen Wertschätzung für realistisches Kino wirken Mekas’ eigene 16-mm-Filme wie die logische Verbindung zwischen den Idealen des Dokumentar- und Experimentalfilms. Im Februar 1962 lässt er den Pionier der Filmtheorie in Deutschland, Rudolf Arnheim, über das Free Cinema schreiben. Arnheim rühmt die Werke der Briten als »small injections of reality«19 – eine Formulierung, die gewiss auch eine Intention von Mekas’ eigenem Filmwerk beschreiben könnte.
Im selben Jahr formuliert Mekas programmatisch: »With Man’s soul being squeezed out in all four corners of the world today, when governments are encroaching upon his personal being with the huge machinery of bureaucracy, war and mass communication, [the American artist] feels that the only way to preserve man is to encourage his sense of rebellion, his sense of disobedience, even at the cost of open anarchy and nihilism. The entire landscape of human thought, as it is accepted publicly in the Western world, has to be turned over.«20
Was Mekas von den US-amerikanischen Filmkünstlern fordert, findet er in europäischen Werken vorformuliert, im italienischen Neorealismus, dem britischen Free Cinema oder der französischen Nouvelle Vague. Dabei hatte gerade dieser neue künstlerische Realismus zeitgleich auch US-amerikanische Vorreiter. Truffaut nannte als persönliches Vorbild für seinen ersten Spielfilm LES 400 CENT COUPS (SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN, 1958) etwa den 1953 unabhängig produzierten Spielfilm LITTLE FUGITIVE (DER KLEINE AUSREISSER, 1953) des New Yorker Filmemachers und Fotografen Morris Engel.21 Man sollte annehmen, dieses 1953 ohne Budget und mit einer Handkamera in Coney Island gedrehte Drama entspreche geradezu idealtypisch Mekas’ radikal-veristischem Programm, doch auch in späteren Interviews hält er Engel auf Distanz zur eigenen Bewegung.
Zwar räumt er ein: »Luckily, just around that time there were in New York people like Morris Engel and Sidney Meyers, who were beginning to make a different kind of cinema, who began breaking away from Hollywood«, wirft dann aber Engel eine fehlende Distanz zu Hollywood vor: »All the so called New York School film makers such as Morris Engel, Lionel Rogosin, Emile De Antonio, and Shirley Clarke, had Hollywood dreams.«22 Als ich Mekas 2008 nach Engel fragte, gab er zur Antwort: »Natürlich kannte ich Morris Engel. Was soll ich über ihn sagen? Er hatte zwei Arme und zwei Beine.«23 Offensichtlich maß Mekas mit zweierlei Maß, wenn er den kommerziell produzierten europäischen Filmen eines Helmut Käutner oder Albert Lamorisse mehr Anerkennung zollte als dem No-Budget-Film seines völlig unabhängig arbeitenden Kollegen.
Die Überzeugung, selbst kein Künstler zu sein, hinderte ihn nicht daran, in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens mit zahlreichen Museumsausstellungen für seine Werke ein weiteres Dispositiv zu erobern, den Kunstkontext. Auch auf dem kommerziellen Kunstmarkt war Mekas plötzlich gefragt. Im Jahr 2010 verklagte er den New Yorker Galeristen Harry Stendhal, weil dieser mit Mekas’ Fotoarbeiten eine Restaurantrechnung von 90.000 Dollar bezahlt hatte – ohne ihn am Verkauf zu beteiligen (man einigte sich 2014 außergerichtlich). In der Berichterstattung der New York Post lagen die Sympathien klar bei Mekas, der von einem der reichen Galerie-Besitzer in Chelsea zur Finanzierung des extravaganten Lebensstils betrogen worden sei. Eine Sammlung von 40 Elvis-Presley-Stills sei an den Luxus-Gastronomen Giuseppe Cipriani gegangen.
Sollten Mekas’ auf Fotopapier ausbelichtete Filmstreifen, die er 2000 im Bildband Just Like a Shadow24 versammelte, etwa die Werke eines Mannes sein, der sich nicht für einen Künstler hielt? Formal erinnern sie in ihrer Betonung von Randperforation und Reihung an Werke von Robert Frank und Andy Warhol. Beide haben dem Doyen der New Yorker Filmavantgarde unendlich viel zu verdanken; und natürlich tauchen