FILM-KONZEPTE
Begründet von Thomas Koebner
Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz
Heft 61 · Juli 2021
Jonas Mekas
Herausgeber: Ann-Christin Eikenbusch / Philipp Scheid
Print ISBN 978-3-96707-482-6
E-ISBN 978-3-96707-484-0
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: © Jonas Mekas: WALDEN (1968)
Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021
Levelingstraße 6a, 81673 München
Inhalt
Ann-Christin Eikenbusch / Philipp Scheid
Die Summe der einzelnen Teile. Facetten des Filmers Jonas Mekas
Daniel Kothenschulte Als Filmer unter Filmemachern. Jonas Mekas’ Selbstpositionierung im Kunstkontext vor dem Hintergrund seiner Arbeit als Filmkritiker
Scott MacDonald Über LOST LOST LOST
Oksana Bulgakowa Mekas’ Monologe. Mekas’ Monologe. Zur Stimme in REMINISCENCES OF A JOURNEY TO LITHUANIA
Eva Kuhn Glänzen, Blicken, Flickern. Das Prinzip der Glimpses in AS I WAS MOVING AHEAD OCCASIONALLY I SAW BRIEF GLIMPSES OF BEAUTY
Anne König Film in Worten. Die editorische Praxis in den Tagebüchern von Jonas Mekas
Philipp Scheid Reality Bytes. Ein Blick auf die Ausstellung The Internet Saga – Jonas Mekas
Biografie
Werkverzeichnis
Autor*innen
Ann-Christin Eikenbusch / Philipp Scheid
Facetten des Filmers Jonas Mekas
Die ersten eigenen Gehversuche mit der Kamera und die der Tochter hinein in das Leben; der Wechsel der Jahreszeiten und der politischen ›Witterungsverhältnisse‹ einer Stadt; die Geburt des Sohnes und das Emporkommen einer neuen Filmbewegung; gesellige Picknicke im Central Park und einsame Spaziergänge durch die Straßen von Brooklyn; eine Familie, die kocht und Freund*innen, die das Brot brechen; Bibelstunden mit Ken Jacobs und Diskussionen über Nietzsche; der Hafen von Cassis und Artisten in der Zirkuskuppel; Großaufnahmen von Blumenknospen und rauschenden Blättern im Wind, von feinen Gesichtszügen und tapsenden Kinderfüßen – und dazwischen immer wieder: der Künstler selbst, der entweder vor der Kameralinse Platz genommen hat oder sich hinter ihr deutlich zu erkennen gibt. Es ist Jonas Mekas, von dem wir folgende (Selbst-)Beschreibungen kennen: Der Vertriebene und Exilant, der Chronist und Augenzeuge, die Schlüsselfigur des New American Cinema, der Herausgeber von Film Culture und Kolumnist bei The Village Voice sowie – last not least – der Filmer, der sich stets auch als Familienmensch zeigte, als Ehemann, Vater, Freund, Bruder und Sohn.
Der eigenen Überlieferung zufolge begann Mekas bereits im Alter von neun Jahren, Tagebuch zu führen, sein Leben schriftlich zu fixieren, Ereignisse auf Papier zu bannen. Über 20 Jahre später tauschte er den Stift gegen die Kamera, das Papier gegen Zelluloid und Video, um fortan Ausschnitte seines Alltags zu Anthologien des eigenen Lebens zu montieren. Als sich Mekas 1949, kurz nach der Ankunft in New York, gemeinsam mit dem Bruder Adolfas seine erste Bolex-Kamera kaufte, kündeten bereits die frühesten Aufnahmen von einer spielerischen Selbstbetrachtung, die zugleich eine Reflexion des Mediums implizierte: In den ersten Sequenzen aus LOST LOST LOST (1976), in die filmische Aufzeichnungen aus den Jahren 1949 bis 1963 Eingang fanden, präsentieren sich die zwei Brüder als jugendliche Gaukler. Munter bedienen sie sich an der Trickkiste des frühen Films und erkunden so die technischen Möglichkeiten des neuerworbenen Apparats.
Indem Mekas das eigene Leben ebenso wie das seines persönlichen Umfelds zum Kristallisationspunkt seiner filmischen Arbeit bestimmte, etablierte er sich in den 1960er und 1970er Jahren – neben Maya Deren, Marie Menken oder Stan Brakhage – rasch zum führenden Vertreter einer Avantgarde, die das Autobiografisch-Persönliche filmisch zu artikulieren und einzufangen suchte. Die Autonomie in Produktion und Distribution – durch die Arbeit der Künstler*innen-Kollektive ebenso befördert wie durch die Entwicklung der Schmalfilmindustrie – leistete einen entscheidenden Beitrag zur Entfaltung eines individuellen, unabhängigen Kinos und ermöglichte es Amateur*innen – und das waren Maya Deren (als Literatin), Marie Menken (als Malerin) oder eben Jonas Mekas (als Poet) zu Anfang ihrer Karriere –, eigene Filme zu realisieren. Diese Entwicklung hin zum sogenannten Personal Cinema hatte bereits in den 1940er Jahren durch Derens narrative Film Poems ihren Anfang genommen und wurde dann in den Arbeiten von Stan Brakhage oder Marie Menken – für Mekas »[t]he Pure Poets of Cinema«1 – fortgeführt.
Erste Experimente mit dem neuen Apparat: Adolfas (links) und Jonas Mekas (rechts) in LOST LOST LOST
Doch wie vom Leben, wie vom Ich filmisch erzählen, wenn das Geschehene der Vergangenheit unwiederbringlich anheimgefallen ist, ohne sich zuvor auf Zelluloid verewigt zu haben? Mekas entschied sich für eine nonlineare Erzählweise, ging es ihm doch nicht darum, das Leben chronologisch anhand von vermeintlich bedeutungsvollen (Lebens-)Ereignissen zu rekapitulieren. Das Autobiografische wird bei Mekas im Fragmentarischen, Alltäglichen und Flüchtigen greifbar, das einen intimen Zugang zur Konstruktion der eigenen Künstler-Persona ermöglicht. Das Lebensumfeld, in dem dieser Identitätsprozess stattfand, lag folglich im Fokus seiner Kamera. Mit ihr lieferte er Einblicke in die Zeit und das Milieu, in dem er verkehrte (WALDEN, 1968), machte sich und anderen ein Bild von jener Stadt (New York), in die es ihn nach dem Zweiten Weltkrieg und nach langer Irrfahrt durch Europa schließlich verschlagen hatte (LOST LOST LOST), oder er richtete den Blick auf das Land seiner Kindheit und frühen Jugend, das er so abrupt hatte verlassen müssen (REMINISCENCES OF A JOURNEY TO LITHUANIA, 1972). Als Ehemann und Vater verfolgte er schließlich mit besonderer Aufmerksamkeit das Leben der eigenen Sprösslinge und ihr Hineinwachsen in eine andere Zeit (AS I WAS MOVING AHEAD OCCASIONALLY I SAW BRIEF GLIMPSES OF BEAUTY, 2000).
Die einzelnen Lebensphasen, die Mekas in seinen Werken reflektierte, sind in verschiedenen Knotenpunkten miteinander verwoben: auf visueller Ebene etwa durch einen motivischen Fundus (Menschen, Schnee, Katzen, Essen, Blumen, Bäume, Straßenzüge), durch die tänzerische Handkameraführung und die Einzelbildschaltung