Network. Ansgar Thiel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ansgar Thiel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839269640
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vor allem die Reichen profitierten, die ihre Identitäten wechseln oder gegebenenfalls auf mehrere zurückgreifen wollten.

      Babic stand hinter Di Marco und las über seine Schulter mit.

      »Ich wusste gar nicht, dass es Luxusidentitäten gibt«, murmelte sie.

      »Geldmacherei. Einige wenige Rollen werden nur an ausgewählte Leute vergeben, die sich die Identitäten eine Stange Geld kosten lassen.« Di Marcos Verachtung war nicht zu überhören.

      Hensen setzte sich neben Di Marco. »Mutig von Mallmann. Das wäre echt ein Schritt Richtung Gleichheit.«

      »Meinst du, dass dieser Vorschlag im Parlament durchkommen könnte?«, fragte Babic.

      »Wenn die ganze EPD mitzieht, dann auf jeden Fall«, meinte Hensen. »Das könnte ein Ansatz sein. Ich denke, wir machen eine Kopie von den Akten und werten den Rest morgen aus.«

      Hensen holte einen Handscanner aus ihrer Brusttasche und begann, die Seiten einzulesen. Der Assistent, der Hensen beobachtet hatte, eilte herbei, um sie davon abzuhalten.

      »Das können Sie nicht tun. Wenn die Opposition Wind von den Anträgen bekommt …«, ereiferte er sich und versuchte, Hensen den Scanner zu entreißen. »Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren!«

      »Immer mit der Ruhe.« Hensen hob beide Hände, die Handflächen nach außen gewandt. »Sie können sich direkt mit ihm in Verbindung setzen.« Sie nahm ihr Videosprechgerät und gab die Nummer der Zentrale ein. Burger gab dem Assistenten recht, wies Hensen an, die Kopien zu löschen und anschließend direkt in die Zentrale zu kommen.

      Der Assistent, der Burgers Anweisungen mitgehört hatte, bekam nun Oberwasser.

      »Sie haben Ihren Chef gehört«, wandte er sich mit arroganter Miene an Hensen. »Ich bitte Sie, Ihre Aufnahmen zu löschen und die Wohnung zu verlassen.« Hensen händigte ihm ruhig den Scanner aus. »Das können Sie sogar selbst tun und uns das Gerät dann zusenden«, lächelte sie ihn an und begab sich Richtung Ausgang, gefolgt von Di Marco und Babic.

      »Wir müssen uns noch mal unterhalten«, rief Di Marco dem Assistenten im Hinausgehen zu.

      »Hensen, hast du die Aufnahmen?«, fragte Di Marco, als sie wieder im Wagen saßen. Hensen grinste triumphierend, zog den Handscanner aus der Tasche und schwenkte ihn wie eine Trophäe hin und her. »Wenn er scannen will, dann wird ihm das Frisierset wenig nutzen.«

      »Hey, ich hab doch gesehen, dass du ihm den Scanner gegeben hast«, fragte Babic erstaunt.

      »Der Assistent hat wohl das gleiche gesehen.«

      »Du kannst den Leuten noch immer den Stuhl unterm Hintern wegklauen? Nein, du bist noch besser als früher.« Babic schüttelte den Kopf. Schon mit zehn Jahren hatte Richie die Gäste in der Kneipe ihres Vaters als Tischzauberin unterhalten.

      »Werden solche Taschenspielertricks von Burger akzeptiert?« Babic konnte sich kaum vorstellen, dass dies mit der offiziellen Linie der SBBK konform ging.

      »Burger war früher nicht besser. Seit er Chef ist, weiß er davon natürlich nichts mehr. Jedenfalls, was er offiziell nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Und wenn die Detailanalyse der Akten was Auffälliges ergibt, dann können wir immer noch einen gerichtlichen Kopierbeschluss erwirken. Das praktiziert die NSA wahrscheinlich schon seit ihrer Gründung so«, antwortete Hensen. »Aber sag mal, hast du psychologische Anhaltspunkte, ob der Assistent was damit zu tun hat?«

      »Eher dafür, dass dies nicht der Fall ist«, antwortete Babic nachdenklich. »Ist dir aufgefallen, dass er immer, wenn er von seinem Chef sprach, wie irre seinen Daumen am Oberschenkel auf und ab gerieben hat? Psychoanalytiker würden wahrscheinlich eine Kastrationsangst diagnostizieren.«

      »Was?«

      »Ihr kennt ja das Kinderbuch Struwwelpeter, oder? In der Geschichte vom Daumenlutscher werden dem Konrad die Daumen abgeschnitten, weil er ständig am Daumen lutscht. Die Mama droht ihm vorher immer, dass der Schneider kommt mit seiner Schere, wenn er mit dem Daumenlutschen nicht aufhört. Und so ist es dann auch.« Sie imitierte mit Zeige- und Mittelfinger eine Schere. »Ich habe letztes Jahr ein Paper eines Neo-Freudianers gelesen. Er behauptet, wenn Jungs in der ödipalen Phase noch Daumen lutschen und dann von ihren autoritären Müttern zu stark reglementiert werden, entwickeln sie Kastrationsängste.«

      »Also Daumen gleich Pimmel?« Di Marco realisierte, dass er unbewusst seine Daumen in seinen Fäusten versteckt hatte.

      »Genau. Wenn so jemand dann im Erwachsenenalter von Autoritätspersonen zu sehr drangsaliert wird, dann kann sich das anscheinend in zwanghaften Verhaltensweisen äußern. Das Daumenreiben ist da eine der harmloseren Varianten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Na ja. Ich bin keine Psychoanalytikerin. Aber ich bin mir sicher, Mallmanns Assistent hat seinen Chef mit aller Kraft gehasst, aber alles in sich hineingefressen.«

      »Könnte das nicht auch die Aufregung über den Mord an seinem Chef gewesen sein?«, fragte Di Marco.

      »Nein, die Hose war an der Stelle schon richtig abgeschabt. Der Hass ist alt.«

      »Aber das macht ihn doch verdächtig.«

      »Ja, aber ich glaube trotzdem nicht, dass er es war.« Babic holte ihre I-Vision aus der Tasche und zeigte Hensen ein Tatort-Foto. »Siehst du das gerahmte Bild von Mallmann?«

      Hensen nickte.

      »Das steht hier noch ganz normal da. Als wir vorher in der Wohnung waren, lag das Bild aber auf der Kommode, der Glasrahmen war zersplittert. Sieht aus, als hätte jemand voller Wut draufgehauen. Und ich weiß nicht, ob es euch aufgefallen ist: Der Assistent hatte einen Schnitt am Knöchel seines Ringfingers.« Sie kratzte sich an der Augenbraue. »So, wie ich das sehe, verspürt der Assistent überhaupt keine Erleichterung, dass Mallmann tot ist. Eher noch mehr Hass. So, als ob er frustriert sei, dass er ihm die Erniedrigungen nicht zurückzahlen kann. Und sich gleichzeitig schmählich im Stich gelassen fühlt.« Babic lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen.

      *

      Auf der Fahrt von Mallmanns Büro zur SBBK-Zentrale schwieg Babic. Es war etwa 22.30 Uhr. Ihr tat der Nacken weh, wahrscheinlich eine Folge des Schwitzkastens von gestern. Sie fühlte sich ziemlich ausgelaugt und hätte sich am liebsten gleich ins Bett gelegt. Wieder hier, noch immer Jetlag, neuer Job, neue Kollegen, als Geisel genommen worden und gleich ein solcher Monster-Fall. Sie hatte in den USA kein einziges Mal mit einem Fall zu tun gehabt, bei dem eine politisch ähnlich hochstehende Persönlichkeit ermordet worden war. Und sie konnte sich die Schwierigkeiten, die auftauchten, wenn man im Einflussbereich derart mächtiger Personen ermitteln musste, schon lebhaft vorstellen.

      Vor allem war sie genervt, weil sie noch nicht genau wusste, welchen Platz sie in ihrem neuen Team einnehmen sollte. Na ja, das würde sich vielleicht jetzt bald klären. Gleich würde sie ihren Chef treffen. Sie kannte ihn zwar von früher, hatte ihn aber lange nicht mehr gesehen.

      Hensen schien zu spüren, was an ihrer Freundin nagte.

      »Mia, es gibt genügend Platz für dich im Team.«

      »Kannst du Gedanken lesen?«

      »Die Ermittlung wird schwierig. Idioten wie dieser Assistent legen dir permanent Steine in den Weg. Du ermittelst, erhältst aber keinen Einblick in Interna, die dir weiterhelfen könnten. Du musst schon froh sein, wenn du überhaupt an den Tatort gelassen wirst. Irgendwann präsentieren sie dir dann einen Schuldigen, meist einen Obdachlosen, den sie irgendwo aufgegriffen haben, und der Fall ist abgeschlossen.«

      Hensen hatte oft genug mit solchen Fällen zu tun gehabt.

      »Aber wo liegt da der Sinn?«, fragte Babic.

      »Diese Leute sind vollkommen abgehoben, von der normalen Bevölkerung abgespalten. Die Art, wie sie Politik machen, hat im Grunde mit Demokratie nicht mehr viel zu tun. Die Wähler, die einen Wählerführerschein haben und dann tatsächlich auch zum Wählen gehen, bekommen von vielen Entscheidungen gar nichts mehr mit, weil diese Entscheidungen auch nicht groß in den Medien diskutiert werden. Deshalb ist Politikern auch nicht